Sie und Er
seine Hand abzuschütteln, und zieht am Griff des Rollenkoffers.
»He, warte mal!« Plötzlich klingt Stefano verzweifelt aggressiv. »Das ist doch nicht zu viel verlangt, scheint mir!«
»Sie wird schon ihre Gründe haben«, sagt die Frau.
»Welche Gründe?« Stefano ist außer sich. »Erklärst du mir bitte, welche Gründe sie hat?«
»Das weiß ich nicht!« Die Frau hebt den Arm im rechten Winkel, um ihren Ärger, festgehalten zu werden, zu unterstreichen. »Ich rufe jedenfalls niemanden an, ich muss gehen.« Endlich kann sie sich losmachen, reißt den orangefarbenen Koffer weg, zieht ihn auf dem Gehsteig hinter sich her; rasch durchquert sie das Dunkel: von einem Lichtkegel einer Laterne zum nächsten. Stefano blickt ihr nach und bemerkt Daniel Deserti erst, als sie fast aneinanderstoßen: Er zuckt zusammen, im Lauf von zwei Sekunden verwandelt sich sein Erschrecken in Verblüffung und dann in Feindseligkeit.
»Wer war das?« Deserti deutet auf die Frau mit dem Koffer, die schon weit weg ist.
»Was machen Sie hier?«, fragt Stefano. Er ist verschwitzt, zerzaust, ohne Jackett, im blauen Hemd mit offenem Kragen und halb aufgekrempelten Ärmeln: der tapfere Mailänder Anwalt, von den Ereignissen überrollt.
Sie stehen nah voreinander und sehen sich an. »Wer war das?«, fragt Deserti erneut.
»Das geht Sie nichts an.« Stefano macht einen Schritt auf dem leicht abschüssigen Gehsteig, um wenigstens den Größenvorteil zu nutzen. »Und Sie haben mir noch nicht geantwortet.«
»Geantwortet?«, echot Deserti; er hasst die Farblosigkeit von Stefanos Blick, seine neutralen Gesichtszüge.
»Ja, was machen Sie hier?!«, bellt Stefano. »Wollen Sie mir gefälligst antworten, ja?«
»Ich suche Clare«, sagt er.
»Und warum?!« Stefano bläht seinen Brustkorb mit warmer Luft, er bebt am ganzen Körper. »Darf man erfahren, warum?! Darf man das erfahren?!«
»Weil ich nicht ohne sie auskommen kann«, sagt Deserti.
Einen Moment lang scheint Stefano das Gleichgewicht zu verlieren: Er strengt sich sichtlich an, nicht zu wanken. »Was?«, sagt er, von allen Dingen, die er sagen könnte.
»So ist es«, sagt Deserti, denn es ist genau so, und anders kann man es nicht sagen. Im Haus gegenüber zieht jemand die Jalousie hoch; beide drehen sich um und blicken auf die vielen offenen Fenster in der Straße, hinter denen ganz bestimmt einige schlaflose Menschen die Szene beobachten.
»Was soll das heißen?«, faucht Stefano, befremdet und feindselig zugleich, was einen seltsamen schillernden Ausdruck erzeugt.
»Ich spreche von Clare.« Deserti empfindet kein bisschen Mitleid; seine Gefühle sind vollkommen vereinnahmt von der Verzweiflung, dass sie ihm entwischt ist, und von der Hoffnung, sie wiederzufinden, für anderes bleibt kein Raum.
»Was redest du da für Scheiße?« Auf einmal klingt Stefanos Stimme überraschend kehlig, geradezu urig. »Chiara ist meine Frau!«
»Du weißt ja gar nichts von ihr«, sagt Deserti. »Du schaffst es nicht einmal, sie mit ihrem wirklichen Namen zu rufen. Über Jahre hast du versucht, sie zu bändigen und eine andere aus ihr zu machen, du armer Irrer.«
Stefano schüttelt den Kopf, als wollte er aus einem bösen Traum aufwachen, und fasst sich an den Hemdkragen. »Und du, was weißt du von ihr, du Scheißkerl?«, sagt er bissig, angestachelt von den Zweifeln, die ihm zunehmend kommen.
»Ich weiß alles von ihr«, erwidert Deserti.
»Was redest du da für Scheiße?« Sein Wortschatz scheint auf sehr wenige Wörter geschrumpft zu sein. »Was redest du da für Scheiße?«
»Ich kenne sie, seit sie vierzehn ist«, sagt er. »Seit sie zwei ist. Ich weiß, wie das Haus aussah, in dem sie aufgewachsen ist. Ich weiß, was sie zum Frühstück isst. Ich weiß, was für eine Bettdecke sie zum Schlafen hatte. Ich weiß, was sie nachts träumt. Ich weiß, was sie beim Tanzen fühlt. Ich weiß, was sie denkt, wenn sie schwimmt. Ich weiß, wer sie ist.«
»Du bist wohl nicht bei Trost!«, schreit Stefano. »Du bist stockbesoffen oder sonst irgendwie zugedröhnt!«
»Jahrelang hast du unbefugt ihr Leben in Beschlag genommen!«, schreit Deserti zurück. »Und hast nichts kapiert von ihr, nichts!«
»Ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, heute Abend!«, brüllt Stefano so laut, dass wahrscheinlich seine Stimmbänder schmerzen. »Alles klaabarf!«
Jetzt ist Deserti erschüttert; aber es ist ein vages Gefühl, das immer weiter weg rückt, zusammen mit allem, was ihn nicht betrifft.
»Jawohl,
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