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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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mein Herr, vor Dutzenden von Zeugen!«, schreit Stefano. »Und wenn zufällig rauskommen sollte, dass du daran schuld bist, dass sie einfach weggelaufen ist, dann bringe ich dich um!«
    »Glaubst du, das könnte die Dinge wieder einrenken?« Wider Willen empfindet Deserti ein kleines bisschen Bewunderung, als er sieht, wie Stefano die Verhaltensgrenzen überschreitet, die er bei ihm für unüberwindlich gehalten hatte.
    »Was redest du da für Scheiße?!«, schreit Stefano erneut.
    »Nichts«, sagt Deserti. Paradoxerweise wenden beide alle paar Sekunden den Blick ab, um die Straße nach rechts und nach links zu sondieren, für den immer unwahrscheinlicheren Fall, dass sie doch noch kommt.
    »Was heißt hier nichts?«, sagt Stefano. Das ist nicht sein körperliches und geistiges Revier, nicht sein Stil, nicht sein Rhythmus, er ist außen vor. »Und woher weißt du überhaupt, dass sie hier wohnt? Was war das für ein Gerede vorher? War da was zwischen euch?«
    Deserti zuckt die Achseln, er denkt nicht daran, zu antworten.
    »He!«, sagt Stefano. »War da was?! Wann?! Wie?! Wo?! Scheiße, antworte mir!«
    Wütend hebt er die Hände, stößt Deserti gegen die Brust.
    Sobald der sich von der Überraschung erholt, gibt er Stefano den Stoß zurück, die Hände auf dem Hemd aus guter, verschwitzter Baumwolle: ein zähes Ringen von Armen und Beinen, ein Kampf Blick gegen Blick, Keuchen gegen Keuchen, Grund gegen Grund, Verzweiflung gegen Verzweiflung. Keiner von beiden bringt artikulierte Worte heraus, nur eine Art »Hmmmmmmmpf«, Ausdruck der beidseitigen, völlig sinnlosen, lächerlichen Anstrengung. Abwechselnd gewinnen und verlieren sie wenige Zentimeter auf dem Gehsteig, wie Ziegenböcke, die um ihr Revier kämpfen; kurzes Vor und Zurück, Halbkreise, ihre Unterschiede in der Muskelmasse und in der Einstellung zu Schlägereien werden ausgeglichen durch die Intensität ihrer Motive.
    Ganze Minuten machen sie so weiter, dann lassen sie fast im selben Augenblick die Arme sinken, keuchen, holen tief Luft.
    »Verdammt noch mal.« Stefano betrachtet seine Hände, sein jetzt total zerknittertes Hemd. Er versucht, es wieder zuzuknöpfen, doch etliche Knöpfe sind abgesprungen; er gibt es auf, schnieft durch die Nase, fährt sich mit der Hand durch die Haare.
    »Hör zu«, sagt Deserti. »Wahrscheinlich ist sie bei dir zu Hause.« Er fragt sich, ob das sein kann, und hat keine Ahnung, aber der Gedanke bohrt sich wie ein Korkenzieher in sein Herz.
    Einige Sekunden steht Stefano unschlüssig da; dann wirft er einen letzten Blick auf Deserti, wirft einen letzten Blick auf Clares Fenster, geht zu seinem Audi, schlägt die Türe zu und fährt mit wütend kreischenden Reifen davon.
    Deserti bleibt allein auf dem Gehsteig zurück und sieht sich um, die Hände geballt in den Hosentaschen. Ihm ist, als sei er total auf null: null Eingebungen, null Handlungspläne, vollkommen leer und verlassen.
     
    Das ist eine der traurigsten Bars, in denen sie in ihrem Leben je gewesen ist
     
    Das ist eine der traurigsten Bars, in denen sie in ihrem Leben je gewesen ist, aber vielleicht liegt es auch an ihrer eigenen grenzenlosen Traurigkeit, die alles überschwemmt, was ihr vor Augen kommt. Draußen steht Paninoteca, doch um diese Zeit ist nur noch ein belegtes Brötchen da, das halb vertrocknet in der Glasvitrine der Theke schmachtet. Die einzigen anderen Gäste sind zwei Typen mit tätowierten Armen im Unterhemd und ein schweinsgesichtiges Mädchen; sie trinken Bier und bewegen die Köpfe im Rhythmus eines grässlichen aus den Lautsprechern krächzenden Schlagers. Clare nippt ab und zu an ihrem Glas Aprikosen-Saft und staunt, dass er so süß und bitter zugleich sein kann: wie ihre Wartezeit, wie alles Übrige.
    Dann sieht sie Matilde mit einem Rollenkoffer kommen; sie geht ihr an der Tür entgegen.
    »Das ist ja wohl ein bisschen zu viel verlangt«, sagt Matilde giftig. »Nachts um zwei und bei den Leuten, die um die Zeit durch die Gegend laufen, meine Güte!«
    »Es tut mir leid!«, sagt sie. »Und der?« Sie deutet auf den orangefarbenen Koffer.
    »Den leihe ich dir«, sagt Matilde. »Deine Koffer waren voll bis obenhin, ich hätte eine Stunde gebraucht, um sie auszuräumen.«
    »Danke«, sagt sie. »Ich schicke ihn dir dann zurück.«
    »Du kannst froh sein, dass ich keinen von dir genommen habe«, sagt Matilde. »Sonst hätte Stefano mich überhaupt nicht mehr gehen lassen.«
    »Wo hast du ihn gesehen?« Clare zuckt zusammen und blickt

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