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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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angstvoll die Straße auf und ab.
    »Vor unserem Haus, du kannst es dir nicht vorstellen«, sagt Matilde. »Ruf sie an, ruf sie an, mir antwortet sie schon seit zwei Stunden nicht. Wie ein Irrer, völlig verzweifelt.«
    »Verzweifelt?« Clare spürt einen wachsenden Druck auf alle inneren Organe.
    »Er hat sich an meinen Arm geklammert«, sagt Matilde. »Du hättest ihn sehen sollen, er wollte mich nicht gehen lassen.«
    »Es tut mir leid«, sagt sie. Unglaublich, aber sie fühlt sich doch tatsächlich noch mehr im Unrecht als vor fünf Minuten: Bodenlose Traurigkeit erfasst sie.
    »Ist es wegen dem anderen?« Matilde schließt halb die Augen.
    »Welchem anderen?« Clare wird rot im Gesicht, und das ist das Letzte, was sie jetzt möchte.
    »Dem mit dem Jaguar Cabrio«, sagt Matilde, um ihr zu zeigen, dass sie zumindest über einige wesentliche Punkte im Bilde ist.
    Clare schweigt. Sie fragt sich, ob zuletzt alles doch viel banaler ist, als sie dachte, ohne jede beeindruckende Komplexität.
    »Na gut, es geht mich ja nichts an.« Matilde deutet auf den Koffer. »Ich habe alles reingegeschmissen, was du mir aufgetragen hast, auch den Laptop.«
    »Danke«, sagt sie automatisch. »Hast du die Flüge gecheckt?«
    Matilde hält ihr einen Zettel hin: »Hier, ich hab dir alles aufgeschrieben. Aber günstige Preise kannst du vergessen um diese Jahreszeit und so kurz vor der Abreise.«
    »Danke«, wiederholt sie. In ihrem Kopf überlagern sich die Bilder: Daniel Deserti, vor Überraschung wie gelähmt vor seiner eigenen Wohnungstür, Stefano, auf Knien bei Marina Recardino zu Haus, während er das blaue Schächtelchen hochhält, Stefano, der sie am Bahnhof forschend mustert, um etwas zu verstehen, Daniel Deserti, der sie aus nächster Nähe ansieht in dem weißen Zimmer in Frankreich. Sie schieben sich übereinander und bersten wie kleine Glasplatten; die Splitter vermischen sich, immer weniger erkennbar.
    »Wäre es nicht besser, du kommst mit heim und schläfst noch mal drüber?«, sagt Matilde.
    Clare schüttelt den Kopf.
    »Vor sechs Uhr vierzig morgen früh gibt es sowieso keinen Flug«, sagt Matilde.
    »Dann warte ich eben.« Clare versucht zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht.
    »Und wie machst du es mit deinem Job?«, fragt Matilde.
    »Ich schreibe ihnen vom Flughafen aus eine E-Mail«, sagt Clare.
    »Wann kommst du überhaupt zurück?«, sagt Matilde. »Ich weiß es nicht«, sagt Clare. Zurückkommen wozu, fragt sie sich.
    »Du denkst doch, dass du wiederkommst?«, sagt Matilde. »Ich denke gar nichts«, sagt Clare. Sie meint es ganz ehrlich, denn die Gedanken, die ihr durch den Kopf gehen, sind nicht vollständig und haben keinen logischen Zusammenhang.
    »Ach du meine Güte!«, sagt Matilde.
    »Nie mehr?« Clare schaut woandershin und denkt: Nie mehr, nie mehr, nie mehr.
     
    Er könnte auch für immer in dieser Straße stehen bleiben, um auf niemanden zu warten
     
    Er könnte auch für immer in dieser Straße stehen bleiben, um auf niemanden zu warten: als gebe es keinen anderen Ort mehr für ihn. Alles, was ihm bleibt, sind eine Haustür und ein Fenster in einem trostlosen Wohnblock und die abwechselnd nahe und ferne Erinnerung daran, wie sie aus dem Fenster geschaut hat und dann aus der Tür gekommen ist, bebend in ihrer einzigartigen Mischung von Lebhaftigkeit und Intelligenz und Aufmerksamkeit und Neugier und Farbe und Licht.
    Er wandert auf und ab, verfolgt von den Mücken, die nicht von ihm ablassen. Er atmet die tropische Luft, lauscht dem Hintergrundsummen der Stadt, dem urzeitlichen Röhren der Lastwagen auf dem Autobahndreieck in der Nähe. Er sondiert die Straße mit Blicken in beide Richtungen, da ist aber nur ein Motorrad, das vorbeifährt, ein Mann mit Hund an der Leine, der in einem Hauseingang verschwindet. Am unlogischsten ist, dass er sich trotz allem immer noch vorstellt, er werde sie gleich kommen sehen, werde sie auf einmal bemerken, ihre Gestalt erkennen, noch bevor er im Licht der Straßenlaternen ihre Gesichtszüge unterscheiden kann. Er stellt sich vor, wie er ihr entgegenläuft, sie stürmisch umarmt, sie hochhebt und im Kreis schwenkt, sie mit Küssen überhäuft, sie so fest drückt, dass ihr die Luft wegbleibt. Er weiß genau, dass diese Bilder nicht realistisch sind, dennoch hält er so hartnäckig daran fest, bis sie sich in wiederkehrende Halluzinationen verwandeln, die beim geringsten auftauchenden Schatten, beim fernsten Geräusch seinen Herzschlag beschleunigen.
    Dann

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