Sie und Er
sechzehnjähriges Mädchen im Schlepptau. »Meine Nichte hätte gern ein Autogramm, aber sie geniert sich«, sagt er zu Pino Noce.
»Und auch ein Foto«, sagt das Mädchen, das angezogen und geschminkt ist wie eine junge Prostituierte und sich natürlich kein bisschen geniert. Es hält eine kleine Digitalkamera hoch.
»Ja klar!«, sagt Pino Noce. Schlagartig kehrt das Leben in ihn zurück: Er lächelt, legt den Arm um die Kleine, schmiegt seine Schläfe an ihre, schneidet ulkige Gesichter, während der Onkel ein paar Fotos knipst.
»Danke, danke, danke!«, sagen Onkel und Nichte, während sie an ihren Tisch zurückgehen, als wäre ihnen ein Wunder geschehen, wobei die Nichte ein wenig das Kreuz durchdrückt, um ihren Hintern zur Geltung zu bringen.
Pino Noce ist schon wieder auf Hochtouren; er streckt die Hand aus, um Desertis Arm zu berühren: »Dürfte ich Sie auch um einen Gefallen bitten?« Aus einer der großen Taschen seiner kurzen Hose zieht er ein breites Handy heraus, das nur aus Bildschirm besteht.
»Was?« Einen Augenblick lang denkt Deserti, er wolle ihm das Handy verkaufen oder irgendeinen Tausch vorschlagen.
»Ein gemeinsames Foto!«, sagt Pino Noce. »Bitte!«
»Auf gar keinen Fall«, sagt Deserti.
»Ha!« Pino Noces Stimme überschlägt sich, er reißt die Augen auf, öffnet den Mund. Dann reicht er Zattola das Handy: »Würde es Ihnen was ausmachen, Dottor Zattola? Sie müssen nur hier draufdrücken.« Er rückt mit seinem Stuhl neben Deserti, versucht sich an ihn zu drängen.
»Wo soll ich drücken?«, fragt Zattola, als sei er soeben aus einem präfotografischen Zeitalter in das Restaurant katapultiert worden.
»Ich habe gesagt, ich will nicht!«, sagt Deserti und versucht wegzurücken.
Doch Pino Noce klammert sich an seinen Arm wie ein Affe, und Zattola löst mit unerwarteter Geistesgegenwart den eingebauten Blitz aus. Pino Noce nimmt das Handy sofort wieder an sich, prüft das Ergebnis, tippt mit den Fingerkuppen mit den abgekauten Nägeln schnell auf dem Bildschirm herum.
»Was machen Sie da?« Deserti streckt die Hand aus, um es ihm zu entreißen und zu zertrümmern.
»Ich stelle es auf Facebook!«, sagt Pino Noce und weicht geschickt aus.
Zattola schiebt sich eine halbe Scheibe Brot in den Mund: Er gibt den Verleger, der in ernste Probleme versunken ist, während seine Autoren ihre Zicken machen.
»He, du Genie, gib es her, oder ich hau dir eine in die Fresse.« Deserti packt Pino Noce am T-Shirt.
»Neee!« Pino Noce kann sich erneut entziehen und lacht, als handelte es sich tatsächlich um einen Lausbubenstreich zur allgemeinen Belustigung.
»Gib sofort das Ding her!« Desertis Tonfall klingt drohend.
»Geschafft!«, kreischt Pino Noce triumphierend. »Das Foto ist schon online! Danke! Ich mit Daniel Deserti am selben Tisch, ich kann’s noch gar nicht fassen! Sagenhaft!«
Deserti erhebt sich mit der Absicht, ihm einen Kinnhaken zu verpassen, dann lässt er es sein. Er kippt den restlichen Wodka runter, schiebt seinen Stuhl weg.
»Wo gehst du hin?«, fragt Zattola, der sich soeben die Serviette umgebunden hat und eigentlich nichts anderes als essen will.
»Hey!«, sagt Pino Noce, »Sie können doch nicht einfach so gehen! Ich wollte Sie noch tausend Sachen fragen!«
Deserti dreht sich um, starrt ihn an, hebt den Mittelfinger. Dann stößt er die Gäste hinter sich grob zur Seite und geht zwischen den anderen Tischen hindurch mit wütenden Schritten auf den Ausgang zu.
Jetzt knurrt ihr Magen vor Hunger
Jetzt knurrt ihr Magen vor Hunger, wie jeden Tag um diese Zeit, wenn sie mit Aufträgen überhäuft an ihrem Platz sitzt. Ihre Kolleginnen und Kollegen sind fast alle schon rasch in die Kantine der GreatAssistance hinuntergegangen, um eine verkochte Pasta oder ein blasses, in einer undefinierbaren Sauce schwimmendes Schnitzel zu vertilgen. Einige sind sogar hinausgeschlüpft, um sich in der Bar einen Espresso und ein Croissant zu genehmigen, bevor sie sich wieder in den Kampf stürzen, nachdem sie sich im Aufzug noch die letzten Krümel abgeklopft haben. Sie hätte es genauso machen können, doch sie mag es überhaupt nicht, sich in wenigen Minuten vollzustopfen, im Wissen, dass sie gleich wieder Anrufe entgegennehmen und tätigen, E-Mails lesen und senden, Informationen einholen und weiterleiten und technische oder bürokratische Probleme lösen muss. Da isst sie lieber schwedischen Vollkornzwieback mit einer Handvoll Mandeln und Haselnüssen und zwei oder drei
Weitere Kostenlose Bücher