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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Vormittag hier rumstehen.«
    Die Moletto zögert, als wäre sie drauf und dran, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Doch sie beherrscht sich und zieht ein Heftchen aus der Handtasche, schreibt mit blauem Filzstift eine Nummer auf. Sie reißt die Seite heraus, reicht sie ihm, lässt sich seine Nummer diktieren, klappt das Heftchen zu. Nach einem angedeuteten Kopfnicken dreht sie sich um und geht.
    Er beobachtet ihren Gang: die Bewegung der Hüften und der Beine, den runden, wohlproportionierten Hintern, die langen, frei schwingenden Arme, die lockigen Haare. Aber er hält sich nicht lange damit auf; er dreht sich um, wirft dem Typen aus dem Geschäft, der immer noch auf dem Bürgersteig steht und ihn anstarrt, einen feindseligen Blick zu und verschwindet in seinem Hauseingang.
     
    Die Fluggesellschaft ihrer Mitbewohnerin Matilde ist in der Krise
     
    Die Fluggesellschaft ihrer Mitbewohnerin Matilde ist in der Krise, was dazu führt, dass Matilde ständig von Depression, kurzfristigem Optimismus, Heimweh und Fressattacken gebeutelt wird. Als Clare nach Hause kommt, brät sie gerade Lammkoteletts in Unmengen von Butter; das ganze Appartement riecht danach. Sie unterhalten sich kurz in der engen Küche, zwischen den blassgrünen Resopalmöbeln. Matilde erzählt von dem betriebsinternen Umschulungskurs, den sie vor einigen Tagen begonnen hat und der sie von einer Stewardess in irgendetwas anderes verwandeln soll. Sie stammt aus Marsala und hat eine außerordentlich dichte dunkle Mähne, in die sie mahagonibraune Strähnen färbt, damit ihre Gesichtszüge weicher erscheinen. Vor einigen Jahren hatte die Regierung eine politische Kampagne gestartet und mit feierlichen Erklärungen und Ermutigungen zu Firmenzusammenschlüssen betont, wie wichtig es sei, die staatliche Fluggesellschaft nicht an Ausländer zu verkaufen. Danach dümpelte die staatliche Fluggesellschaft weiter vor sich hin, vom Markt fallengelassen, von der Regierung unbeachtet. Die Beschäftigten wurden zum Teil in Rente geschickt oder entlassen, zum Teil fliegen sie noch, und zum Teil werden sie für andere Tätigkeiten umgeschult, mit gänzlich unsicheren Perspektiven.
    »Ich finde es einfach unsäglich«, sagt Matilde, während sie die Lammkoteletts in der brutzelnden Butter wendet. »Diese Geschichte mit der vorläufigen Umschulung<.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, antwortet Clare. Seit je beeindruckt sie diese italienische Tendenz, Begriffe zu verwenden, die möglichst schwammig sind und die keine Verpflichtung oder Überzeugung ausdrücken, sondern je nach Bedarf ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Seit einiger Zeit zum Beispiel hat sie bemerkt, dass das Wort »Problem« fast aus der geschriebenen und gesprochenen Sprache verschwunden und durch »Problematik« ersetzt worden ist. Sie hat im Wörterbuch nachgeschlagen und herausgefunden, dass die beiden Wörter keineswegs dieselbe Bedeutung haben, denn »Problematik« verweist auf einen Problemkomplex, zum Beispiel in der Wissenschaft. Das Gleiche ist mit »Typ« passiert, neuerdings durch »Typologie« ersetzt, und mit »Methode«, die zu »Methodologie« geworden ist - um nur einige Beispiele zu nennen, in denen anstelle eines spezifischen Terminus ein anderer verwendet wird, der auf eine ganze Kategorie verweist. Ihr scheint, dass dies mit dem vagen und ungewissen Wesen eines Landes zu tun hat, in dem niemand je ganz direkt auf eine Frage antwortet und niemand je ganz konsequent nach seinen zur Schau getragenen Überzeugungen handelt.
    »Nein, das kannst du dir nicht vorstellen«, sagt Matilde, die ihr offenbar nicht die Fähigkeit zubilligt, die Dinge von ihrem eigenen Standpunkt aus zu sehen. »Was heißt denn >übergangsweise dem Bodenpersonal angehören<. Wenn meine Arbeit in der Luft ist?! Und was heißt hier >übergangsweise    Clare lacht, auch wenn sie es eigentlich nicht dürfte. »In Prato«, sagt sie, »habe ich einmal ein Schild gesehen, auf dem stand: >Diese Straße ist im Moment dauerhaft für den Verkehr gesperrt<.«
    »Hmm«, macht Matilde, aber es ist unklar, ob sie zugehört hat, ihre dunklen Augen funkeln abweisend.
    Seit ihre Mitbewohnerin nicht mehr fünf Tage pro Woche im Flieger verbringt, hat sich der Raum in dem kleinen Appartement überraschend verengt, denkt sie. Anfangs fand sie es faszinierend, ein von dem ihren sehr verschiedenes Leben aus der Nähe zu beobachten: die ständigen Anrufe bei der Mama, die von Mama

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