Sie und Er
Rolle abzulegen, drängt er sie immer beharrlicher, sie doch wieder anzunehmen. Es ist die ewig schwankende Waage, wie ihre Schwester Julia sagt, die Hände mit den Handflächen nach oben auf und ab bewegend, um zu zeigen, wie bei einem Paar immer einer überwiegt und einer unterliegt. Ein tausendstel Gramm mehr Hingabe genügt, damit der andere mehr Gewicht gewinnt, seine Waagschale sich zum Nachteil der deinen tiefer senkt.
Stefano beendet sein Telefonat, kommt in die Küche: »Hey, Mäuschen.« Er küsst sie auf die Stirn.
»Hey«, sagt sie. Schon bei mehreren Gelegenheiten hat sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie sich im Bild des Mäuschens nicht besonders wiedererkennt, weder physisch noch psychisch, und dass sie einen anderen Kosenamen vorziehen würde, wenn sie denn unbedingt einen haben muss. Aber offenbar ist es ein Bild, das mit dem männlichen Bedürfnis zusammenhängt, sie als klein und hilflos zu betrachten, obwohl sie genauso groß und für das Überleben in schwierigen Situationen mindestens genauso gut gerüstet ist wie er.
Stefano macht eine Handbewegung zum Wohnzimmer: »Das war Bogartinelli aus Perugia.«
»Der mit der Papierfabrik, in der es gebrannt hat?«, fragt sie.
Stefano hebt die Augenbrauen, als wollte er sagen: »Kompliment.« In der ersten Zeit staunte er darüber, dass sie sich an fast alles erinnerte, was er ihr erzählte, an Namen, Rollen, Orte, Gründe. Auch darin schnitt sie besser ab im Vergleich zu seinen Verflossenen, die gar nicht mehr zuhörten, sobald er von seinen Rechtsanwaltsdingen zu reden anfing. Aber im weiteren Verlauf ihrer Beziehung begann diese Aufmerksamkeit ihn allmählich zu beunruhigen: Manchmal sind seine Antworten ausweichend oder offen verärgert. Irgendwann hat sie dann aufgehört, Fragen zu seiner Arbeit zu stellen; sie versucht sich aus seinem Jagdrevier herauszuhalten.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie beiläufig, damit er nicht das Gefühl hat, dass sie sich einmischen will.
Er nickt, genauso nichtssagend. Dann dreht er sich um, holt zwei Kelchgläser und zieht eine Flasche Prosecco di Valdobbiadene aus dem Kühlschrank. Gewöhnlich mag er keinen Schaumwein, er stimmt überein mit der Theorie seiner Mutter, nach der man mit Luftbläschen jeden Wein ruinieren kann. Doch jetzt führt er sich irgendwie feierlich auf: »Ich habe eine wichtige Neuigkeit.«
»Was für eine Neuigkeit?«, fragt sie, plötzlich erschrocken. Sie macht zwei Schritte zur Seite, um den Beobachtungswinkel zu verändern, nicht in einer starren Perspektive zu verharren. Als Kind tadelten ihre Mutter und ihre Großmutter mütterlicherseits und auch ihre Lehrerinnen sie immer dafür, dass sie nicht stillhielt, aber sie konnte nicht anders, sie musste die Personen oder die Dinge umkreisen, damit es ihr gelang, sie wirklich zu sehen.
Stefano öffnet die Flasche vorsichtig, ohne den Korken knallen zu lassen. Jede seiner Bewegungen gleicht einer Kontrollübung, als wäre da immer jemand, der ihn beobachtet, ob er auch alles richtig macht. Er füllt die zwei Kelche, reicht ihr den einen. Er nippt, verschluckt sich, muss husten. »Heute Morgen habe ich eine Wohnung besichtigt.«
»Wo?«, fragt sie, nimmt ebenfalls einen Schluck.
»Hausnummer 36, in dieser Straße, Ecke Via Racamardi.« Er hustet erneut.
»Die Straße, wo deine Mutter wohnt.« Vor ihrem inneren Auge taucht kurz die eiskalte Ordnung im Wohnzimmer von Stefanos Mutter auf.
»Dritter Stock, hundertvierzig Quadratmeter«, sagt er, als hätte er nichts gehört. »In supergutem Zustand, einmal Streichen genügt, vielleicht nicht einmal das. Der bequemste Umzug der Welt.«
»Du brauchst eine größere Wohnung?« Sie blickt sich in der Küche um, die schon mit viel zu vielen kaum genutzten Schränken und Elektrogeräten ausgestattet ist.
»Wir brauchen.« Stefano versucht zu lächeln und zieht dabei den einen Mundwinkel hoch - offensichtlich ficht er einen seiner inneren Kämpfe zwischen Entschlossenheit und Vorsicht aus.
Sie hat das deutliche Gefühl, die Szene schon einmal gesehen zu haben, mit genau derselben Abfolge von Wörtern und Gesten und Blicken. Als Reaktion nimmt sie einen zu großen Schluck Prosecco, stellt den Kelch mit zu viel Nachdruck auf dem Tisch ab. »Wie meinst du das?«
»Na ja, dass wir dort zusammenleben«, sagt Stefano. »So, wie du es wolltest.«
»Ich wollte es gar nicht«, sagt sie, da ihr nichts anderes einfällt.
»Wie, du wolltest nicht?« Einen Moment lang leuchtet Unsicherheit in
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