Sie und Er
Schüchternheit ist kaum spürbar, wird ausgeglichen durch einen körperlicheren, extrovertierteren Teil ihres Wesens.
Er steckt die Hände in die Hosentaschen: »Mein Auto ist sowieso halb zerstört. Und den Führerschein hat man mir auch abgenommen, da Sie darauf bestanden haben, mich ins Krankenhaus zu bringen.«
»Sie waren ziemlich übel zugerichtet«, sagt die Moletto. »Ihre Wunde wurde mit mehreren Stichen genäht, vielleicht ist Ihnen das entgangen.« Ihr Akzent mit dem amerikanischen R erzeugt eine sonderbare Melodie, so eingebunden in die Konturen eines korrekten Italienisch.
»Jedenfalls bestand keinerlei Notwendigkeit, all diese Erklärungen auszufüllen«, sagt er. »Man weiß ja, dass die Krankenhäuser wie Polizeistationen sind.«
»Ihren Alkoholpegel hätten die sowieso kontrolliert«, sagt die Moletto. »Ich kann nichts dafür, dass Sie beim Fahren eine Flasche Wodka getrunken hatten.« Dabei verlagert sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, stellt ihre Füße mal so, mal so, unterstreicht die Sätze mit ihren zartgliedrigen Händen.
»Die Flasche war dreiviertelleer, als ich losgefahren bin«, sagt er. »Aber natürlich ist es für Sie einfacher, mich als Alkoholiker einzustufen.«
»Ich stufe Sie nicht ein«, sagt sie rasch. Sie lächelt nervös, nimmt die Sonnenbrille ab. Ihre Augen sind vielfarbig gesprenkelt: gelbgrün, umgeben von dunklerem Grün, das je nach Brechungswinkel des Lichts zu Obsidianblau wird.
»Sagen Sie mir, wie viel ihr wollt«, sagt er. »Ich gebe euch einen Scheck.«
»Aber so funktioniert das nicht«, sagt die Moletto. »Da gibt es ein ganz bestimmtes Vorgehen, die Versicherungen müssen einen Kostenvoranschlag genehmigen und so weiter.« Erneut verändert sie ihre Haltung und wendet sich wieder dem Schaufenster zu.
»Wollen Sie jetzt mit mir reden oder Geschäfte anschauen?«, fragt er.
»Ich wollte nicht mit Ihnen reden«, antwortet sie. »Ich wollte wissen, wie Sie das mit dem Schaden an unserem Auto halten wollen.« In Wirklichkeit sieht sie exotischer aus, als es ihm an dem Tag des Unfalls im Regen vorgekommen war: die länglichen Augen, die gerundete Stirn, die hohen Wangenknochen, die edle Linie der Nase, die schön geschwungenen Lippen, das elegante Kinn. Es wirkt wie ein antikes Gesicht, durchsetzt von einer leichten Traurigkeit, die nur momentweise aufscheint.
»Warum ist dieser Blödmann, der mit Ihnen zusammen war, nicht selber hergekommen?«, sagt er. »Das Auto gehört doch ihm. Auch wenn Sie so nobel und großmütig immer von >unserem Auto< sprechen.«
»Er hatte keine Zeit, er arbeitet«, sagt die Moletto brüsk. »Und er ist keineswegs ein Blödmann!«
»Doch, das ist er, das wissen Sie besser als ich«, erwidert er. »Völlig verschanzt in seiner Geistlosigkeit. Und die will er Ihnen auch aufzwingen, wie alle Blödmänner.«
»Was erlauben Sie sich! Wie können Sie so etwas sagen!«, empört sie sich. »Sie kennen ihn ja gar nicht!«
»Was finden Sie an ihm?«, fragt er, ohne lockerzulassen. »Gibt er Ihnen irgendwie Halt? Fühlen Sie sich beschützt vor der chaotischen Komplexität des Universums?«
»Hören Sie, wenn Sie weiter so beleidigend sind, gehe ich«, sagt die Moletto.
»Ich versuche nur, die Situation zu umreißen«, sagt er.
»Sie haben mich hier aufgestöbert, Sie sollten froh sein, dass ich Ihnen meine Zeit widme.«
»Ah ja?«, sagt sie, rot im Gesicht. »Für wen halten Sie sich eigentlich, meine Zeit ist genauso wertvoll wie Ihre!«
»Das ist anzunehmen«, sagt er achselzuckend. »Jedenfalls habe ich nicht von Ihnen gesprochen, das wissen Sie genau. Warum halten Sie nur so sinnlos zu einem, der Sie nicht verdient?«
»Sie haben auch von mir gesprochen!«, sagt sie. »Sie haben von meinem Verlobten gesprochen, von meinem Privatleben, von meinem Verhältnis zum Universum und so weiter!« Trotz der Aufregung verliert ihre Stimme nicht an Musikalität; ihre Gesichtszüge bleiben ausgeglichen: Insgesamt geht eine ungewöhnliche, seltsam natürliche Harmonie von ihr aus.
»Wenn, dann nur indirekt«, sagt er.
Sie lockert mit zwei Fingern ihre Haare, bewegt die Beine, dreht sich wieder zum Schaufenster um und betrachtet die Kuh mit dem Bauernpaar.
Ohne zu überlegen betritt er das Geschäft, dessen Tür offen steht, damit an dem stickigen Morgen etwas Luft hereinkommt, geht schnurstracks auf einen Typen zu, der in einem hellblauen Kunststoffsessel aus den fünfziger Jahren lümmelt und eine Zeitschrift liest. »Was
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