Sie und Er
dann früher oder später bei jeder Bank, jedem öffentlichen Amt, jedem Kaufhaus, jedem Arbeitsplatz oder Wohngebäude eingeführt werden.
Jetzt, da er sich in den großen, klimatisierten, kühlen und von weißem Tageslicht durchfluteten Räumen aufhält, muss er jedoch zugeben, dass ihn hier noch immer einiges fasziniert. Die Vielfalt der Menschen hat keineswegs abgenommen, es scheint sogar, als sei sie noch reicher an Typen und Farben; Gleiches gilt für die unerschöpfliche Skala von Verhaltensweisen, Gesten, Kleidern, Frisuren und Beziehungen und Motivationen all dieser Leute, die mit unterschiedlicher Dringlichkeit in alle Richtungen streben. Er sieht den Reisenden, die auf den Ausgang zugehen, ziemlich genau an, aus welchem Grund sie unterwegs sind, und den Wartenden, warum sie in der internationalen Ankunftshalle vor den Mattglastüren stehen. Auf Anhieb kann er eine wartende Ehefrau von einer wartenden Geliebten unterscheiden, eine Arbeitskollegin von einer Schwester oder Mutter, einen Ehemann von einem Chauffeur, einem Angestellten, einem Reiseleiter, einem Verkäufer oder Börsenmakler. Diese Fähigkeit, die er im Lauf der Jahre vervollkommnet hat, beruht auf einer Übereinstimmung von Wahrnehmung, Vorstellung und Erfahrung. Sie gehört auch zu seinem Beruf; nicht dass er besonders stolz darauf wäre.
Was ihm am Flughafen noch immer am besten gefällt, ist die Dimension des Wartens: der Raum von Möglichkeiten, der sich ausdehnt und sich mit Vorahnungen, Rekonstruktionen, Zweifeln, Unsicherheiten, Bedürfnissen, Erinnerungen, Absichten, latenter Unternehmungslust und geistigem Voraus- und Zurückeilen füllt. Er könnte stundenlang hier warten, fasziniert von der ständigen Vervielfältigung der Möglichkeiten bis zu dem Augenblick, in dem die Vorstellung sich schlagartig verdichtet und der scheinbaren dreidimensionalen Objektivität der Tatsachen Platz macht.
Ein großer, schlanker Mann mit Brille kommt mit nicht ganz sicherem Schritt und ebenso unsicherer Miene auf ihn zu, so als wollte er ihn etwas Absurdes fragen oder ihn vielleicht sogar angreifen.
Instinktiv spannt er die Muskeln an, bereit, zurückzuweichen oder zur Seite zu springen, prompt und heftig zurückzuschlagen.
Stattdessen streckt der Mann ihm die Hand entgegen: »Ich wollte Ihnen danken.«
»Wofür?« Er ist noch auf alles gefasst, während er das blasse Gesicht, den langen Arm des anderen mustert.
»Für Ihre Bücher.« Der Mann steht weiter leicht schwankend mit ausgestreckter Hand vor ihm.
Zuletzt ergreift er sie, sie ist knochig und zart: »Ich danke Ihnen.« Er fühlt sich ein bisschen paranoid, weil er einem so friedfertigen Menschen böse Absichten unterstellt hat, aber es ist ja nicht seine Schuld, findet er, sondern das Symptom einer viel umfassenderen Verkommenheit der Beziehungen.
»Wann erscheint das nächste?«, fragt der Mann mit einem erwartungsvollen Blick.
»Oh, vielleicht nie.« Deserti schüttelt den Kopf.
»W-wie, n-nie?« Plötzlich stottert der Mann, vorher hatte er es offenbar unterdrücken können.
»Die Bücher wachsen ja nicht wie die Kartoffeln oder die Karotten«, sagt er, verärgert wie jedes Mal, wenn ein Bewunderer seiner Arbeit zeigt, dass er nicht die mindeste Ahnung davon hat, was dahintersteckt.
Der Mann nickt; aus seiner Haltung wird deutlich, dass er noch etwas hinzufügen möchte, es aber nicht schafft, den Satz zu formulieren, weil er zu verdutzt oder zu eingeschüchtert ist.
Deserti macht ihm ein Zeichen, als hätte er es eilig, entfernt sich ein paar Schritte, damit er das Gespräch nicht weiterführen muss, liest zum dritten oder vierten Mal die Namen der Abflugstädte und die Ankunftszeiten auf der Leuchttafel über ihm. Eine Zeitlang, denkt er, hat es ihm Spaß gemacht, von seinen Lesern erkannt zu werden, er konnte mit Wärme, ja sogar Neugier auf ihre Annäherungen reagieren. Zwei- oder dreimal hat er sogar ein paar von ihnen in die Bar eingeladen, hat sich ihre Kommentare und Standpunkte angehört; mit ein paar Leserinnen hat er auch angebändelt. Er fragt sich, ob es nur eine Form von Narzissmus war oder ein Zeichen von Weltoffenheit; er fragt sich, was sich danach verändert hat und warum.
Aber eigentlich hat er keine Lust, hier in diesem unangenehmen Ambiente herumzustehen und sich selbstkritische Fragen zu stellen; vor allem wartet er darauf, dass auf der Tafel neben der Abkürzung und der Nummer des Fluges aus London endlich der Vermerk landed aufleuchtet.
Vielleicht
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