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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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sie in einem Ton, der sie selbst nicht sehr überzeugt, »bewegen Sie sich nicht.« Ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse müssten recht gut sein in Anbetracht ihrer Arbeit und der zahllosen Übungen, zu denen ihr Vater sie und ihre Schwestern von klein auf jahrelang gezwungen hat; dennoch fällt ihr in diesem Augenblick bloß ein, dass ein Unfallopfer stillhalten muss.
    »Was wollen Sie?«, murmelt der Typ. »Sind Sie von der Polizei?« Er hat sich vielleicht zwei Tage nicht rasiert, aber seine Hände sind gepflegt, die Nägel kurz geschnitten; innen am rechten Handgelenk hat er einen Skorpion eintätowiert.
    »Ich war in dem anderen Auto.« Durch den Regenvorhang weist sie auf den Audi ein paar Meter weiter vorne. »Sie sind auf uns drauf gefahren.«
    »Idioten«, murmelt der verletzte Typ. »Steht da wie angenagelt, statt loszufahren.«
    Sie fragt sich, ob diese Worte als Hinweis auf intakte Hirntätigkeit oder eher als besorgniserregend zu werten sind. Ihre Füße haben immer weniger Halt in den durchnässten Schuhen, und jedes Mal, wenn die Autos weiterfahren, wird sie vom Fahrtwind und dem aufspritzenden Wasser erfasst. Der Dauerregen trommelt auf das Stoffverdeck. Halb im Wageninneren, halb draußen fühlt sie sich in einer surrealen Lage. Stefano in seiner orangefarbenen Weste gestikuliert immer noch, um den Verkehr umzuleiten; der ganze Raum ist ausgefüllt, jede Einzelheit gewinnt übertriebene Bedeutung.
    Der Typ in dem Jaguar fasst sich an die Stirn, betrachtet seine blutige Hand, hustet; das Blut rinnt weiter herab.
    Sie kann sich nicht entschließen, die Verletzung genau anzuschauen, aus Angst, eine zu tiefe Wunde zu sehen, aber sie weiß, dass sie es tun müsste. »Tut es weh?«, fragt sie.
    »Aaah, ja«, sagt der Typ. Unerwartet lächelt er: Und es wäre gar kein hässliches Lächeln, wenn es nicht so absolut unangebracht wäre.
    Sie fragt sich, ob es sich um einen unwillkürlichen Reflex handelt oder um ein Anzeichen für eine rapide Verschlimmerung seines Befindens. »Zeigen Sie mir, wo?«, sagt sie. Endlich beugt sie sich vor, um seinen Kopf in Augenschein zu nehmen: Da ist ein dunkler, feuchter Fleck, drei oder vier Zentimeter, wo die Haare verklebt sind und das Blut herausläuft.
    »Nicht da«, murmelt der Typ.
    Sie sieht ihn an und fühlt sich seltsam verunsichert. »Wo dann?«, fragt sie.
    Der Typ legt sich eine Hand aufs Herz: »Hier ungefähr. Und wo tut’s Ihnen weh?«
    Sie weiß nicht, was sie antworten soll. »Ich rufe jetzt einen Krankenwagen.« Mit der Rechten tastet sie nach ihrer Tasche, aber sie hat sie im Auto gelassen.
    »Ist Ihnen klar, wie viele Farben Ihre Augen haben?«, sagt der Typ. Oder jedenfalls kommt es ihr so vor, bei dem Krach ist es schwierig, ganz sicher zu sein.
    Sie kann nicht umhin, ihm erneut in die Augen zu schauen: Wärme verbirgt sich hinter der scheinbaren Härte wie ein Feuersee. »Ich gehe mein Handy holen«, sagt sie und deutet hinter sich. »Es ist in meiner Handtasche im Auto.«
    »Ach, hören Sie doch auf«, sagt der Typ, wie plötzlich überwältigt von einer unerträglichen Gereiztheit. »Verschwinden Sie.«
    »Ich versuche ja nur zu helfen.« Ihr ist klar, dass sie unsicher und unüberlegt reagiert, doch zweifelt sie nicht daran, dass sie Hilfe leisten, etwas unternehmen, ihn retten muss.
    »Helfen Sie jemand anderem«, knurrt der Typ. »Oder sich selbst, noch besser. Was ist das eigentlich für ein Akzent?«
    Wieder ist sie irritiert, dass der Typ trotz seiner Lage noch fähig ist, solche Einzelheiten zu erfassen. »Ich bin Amerikanerin«, antwortet sie.
    »Oh yeah?«, sagt er, legt den Kopf zurück. »My first wife was English. From East Sussex. Totally incompatible. To-tally.«
    »Bewegen Sie sich nicht, okay?«, sagt sie. »Bleiben Sie still da sitzen. Ich komme gleich wieder.« Sie zögert, ob sie ihn allein lassen soll oder nicht, schaut sich um. Ihre innere Chemie gerät in Aufruhr: Sie richtet sich auf, hüpft durch das Wasser, das in Bächen über den Asphalt strömt, auf den Audi zu.
    Ein paar Meter weiter hinten im dichten grauen Regen redet Stefano mit einem Fernfahrer, dreht sich um und schaut sie fragend an.
    Sie macht ihm ein vielleicht nicht verständliches Zeichen, kriecht ins Auto und sucht hastig in ihrer Tasche nach dem Handy, kann es nicht finden, reißt sich zusammen, um die Gedanken zu koordinieren, die jetzt zu schnell durch ihren Kopf rasen.
    Stefano öffnet die Auditür, lässt sich hinters Steuer fallen, klitschnass und keuchend. Er

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