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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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probiert, an irgendeine Tätigkeit zu denken, die er ausüben könnte, anstatt zu schreiben - aber was? Er schenkt sich noch ein halbes Glas Orangensaft mit Wodka ein, doch der Alkohol verbessert seine Sicht der Dinge in keiner Weise. Ohne die Handschuhe anzuziehen, versetzt er dem Boxsack, der im Wohnzimmer hängt, ein paar Faustschläge und tut sich an Fingerknöcheln und Handgelenken weh.
    Er setzt sich auf ein schwedisches Designersesselchen, das ihm eine krankhaft eifersüchtige Exfreundin hinterlassen hat, probiert es mit einer Inventur der wirklich denkwürdigen Dinge, die ihm in den letzten drei, vier Jahren passiert sind: nichts, nichts, nichts. Ihm ist, als sei er in einem Kreislauf schon gedachter Gedanken, schon erlebter Ereignisse und schon gesagter Worte gefangen und finde keinerlei guten Grund, um da überhaupt wieder herauszukommen. Auf dem Tisch liegt die Fotokopie eines Klassenaufsatzes von Will, den sie zusammen gelesen und kommentiert haben, ohne dabei die Barriere der Nicht-Kommunikation länger als ein paar Sekunden durchbrechen zu können. Das danebenliegende kleine Zebra aus Holz mit eingebrannten Streifen, das Jenny ihm geschenkt hat, gibt ihm einen heftigen Stich.
    Clare Molettos Stimme am Telefon fällt ihm wieder ein: die verhaltene Neugier, die leichte Trauer, die Unsicherheit, der frische, dann aber wieder zurückgezogene Schwung, ihre wütende Art, das Gespräch zu beenden. Dass ihm jemand den Hörer aufknallt, hat er noch selten erlebt, außer in ein paar sehr zerrütteten Beziehungssituationen; das war immer eher seine Rolle. Er erinnert sich an einige andere Merkmale der Moletto, als sie sich unten vor dem Haus getroffen hatten: den rasch aufflammenden Stolz, die präzisen Antworten, ihre wilden Haare, die Farben in ihrem Blick. Einen Moment lang meint er, sich durch ihre Augen zu sehen, und es ist gar kein erfreulicher Anblick.
    Er nimmt das Handy vom Tisch, ruft, ohne nachzudenken, die Nummer des letzten beantworteten Anrufs an. Er hört das gedehnte Tuten, das wer weiß welcher Klingelmelodie entspricht, in wer weiß welchem Zimmer oder welcher Straße. Er bereut es schon, kommt aber auch nicht auf die Idee aufzulegen, obwohl das vergebliche Läutenlassen allmählich peinlich wird.
    Dann plötzlich die Stimme der Moletto: »Ja, hallo?«
    »Wer spricht?«, fragt er.
    »Clare Moletto«, sagt sie, nicht gerade freundlich. »Was wollen Sie?«
    »Ich muss die falsche Taste gedrückt haben«, sagt er mit schlechtgespielter Überraschung. »Ich habe noch nicht kapiert, wie dieses dämliche Handy funktioniert.«
    »Na dann, Wiedersehen«, sagt die Moletto schroff.
    »Warten Sie«, sagt er, ohne so schnell eine passende Notlüge erfinden zu können.
    »Was wollen Sie?«, fragt die Moletto.
    »Warum haben Sie mich angerufen?«, fragt er.
    »Sie haben mich doch angerufen«, sagt die Moletto genervt.
    »Aber vorher haben Sie mich angerufen!«, erwidert er. »Das können Sie nicht bestreiten!«
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu!« Es klingt, als würde sie ihn gleich mit Beschimpfungen überschütten, stattdessen fängt sie an zu lachen: perlende kleine glucksende Laute, dazwischen holt sie immer wieder kurz Atem.
    Er fühlt sich auf einmal verunsichert, unter allen vorstellbaren Reaktionen ist dies die einzige, die er nicht bedacht hat. »Was finden Sie denn so amüsant?«, fragt er.
    »Amüsant? Gar nichts«, antwortet die Moletto. »Höchstens grässlich.« Aber sie lacht weiter.
    »Und warum?«, sagt er mit plötzlich unverhohlener Neugier, die er nicht mehr überspielen kann.
    »Weil Sie so unglaublich egozentrisch sind!«, sagt die Moletto. »So unfähig zuzugeben, dass Sie unrecht haben!«
    »Woher wollen Sie wissen, wie ich bin?«, erwidert er, obwohl er genau weiß, dass er sich nicht auf diese Ebene begeben darf. »Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?«
    »Ich glaube schon«, sagt sie. Ihre Stimme schwankt zwischen Ungeduld, Vergnügen und Ratlosigkeit.
    »Zum Beispiel?«, fragt er, wie ein Soldat, der den Kopf selbstmörderisch aus dem Schützengraben streckt.
    »Lassen Sie es lieber, Sie kämen nicht gut weg, wenn ich damit anfange«, sagt die Moletto, halb zugewandt, halb distanziert, eine seltsame Gratwanderung.
    »Wo sind Sie?«, sagt er auf einmal, er weiß selbst nicht, warum.
    »Wie meinen Sie das?«, fragt die Moletto. »Zu Hause, bei der Arbeit, wo?« Ihm ist, als durchschnitte ihn eine feine Klinge - ein unheimliches Gefühl. »Ich bin nicht in Mailand«, sagt sie. »Und

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