Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
Vom Netzwerk:
Möglichkeit finden, dich von deiner dämlichen Arbeit freizumachen.«
    »Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, erwidert sie.
    »Man muss nur wollen«, sagt Stefano. »Denk, wie schön kühl es sein wird, beim Schlafen braucht man sogar eine Decke. Abseits von den überfüllten Stränden und Bergen verbringen wir vierzehn herrliche Tage mit Spazierengehen, gutem Essen und gutem Wein.«
    »Mal sehen«, sagt sie, während sie sich in der schattigen Küche und dem kleinen Wohnzimmer umschaut, vor der Sonne geschützt, die draußen brennt.
    »Tom und Lauretta kommen dann vielleicht auch ein paar Tage«, sagt Stefano. »Hundert Prozent sicher ist es nicht, aber wenn sie es schaffen, die Kinder zu ihren Eltern nach Macugnaga zu bringen, kommen sie.«
    »Das wäre schön«, sagt sie, als handle es sich um eine ganz unwirkliche Szene auf einem anderen Stern.
    »Also dann«, sagt er. »Irgendwie schaffst du es schon, frei zu kriegen.«
    »Ich versuch’s«, erwidert sie, nur um das Gespräch zu beenden.
    »Küsschen, Mäuschen«, sagt Stefano. »Ciao.« Sie legt auf.
    Anschließend spürt sie innerlich eine so heftige Unruhe, dass sie noch einmal hinaufstürmt, sich den Rock herunterreißt, ein Paar Shorts anzieht, wieder hinuntereilt, in die Joggingschuhe schlüpft, die sie immer neben der Türe stehen hat, und losläuft, ohne auch nur abzuschließen, den Maultierpfad hinauf, der direkt hinter dem Haus vorbeiführt und den Kurven der Hügel folgt.
    Jedes Mal ist sie wieder bezaubert von dem Weg zwischen den Oliventerrassen und den Gärten der umliegenden Häuser, den Zitronen- und Bitterorangenbäumen, den wilden Weinranken und dem Bambus hinter den Maschendrahtzäunen, wo Hibiskusblüten leuchten, aus denen Nektar tropft und die von der zuckrigen Essenz und der Hitze trunkenen Insekten anlockt. Von hier aus und noch ein gutes Stück weiter sieht man weder Straßen noch Strommasten, Kiesgruben, hässliche Gebäude oder Autos, es gibt kein anderes Geräusch als das unablässige Kreischen der Zikaden. Immer wieder findet sie es ein Wunder, dass dieser kleine Ausschnitt der Welt beinahe genau so geblieben ist, wie ihr Vater ihn viele Jahre zuvor entdeckt hat, fern von den Hässlichkeiten, die jede geschwungene Linie mit Kanten aus grauem Zement verschandeln und das Gras unter Beton begraben und achtlos jede Harmonie zerstören. Die Illusion dauert an, die Zeit scheint stehengeblieben, dank des Winkels und der Ausrichtung, dank der alten Anwesen in den Händen zerstrittener Erben, dank der zu engen Durchgänge, der zu steilen Steigungen und der ungünstigen Verkehrsverbindungen, die für träge Köpfe und plumpe Hintern zu mühsam sind.
    Heute allerdings wird ihre kontemplative Stimmung ständig gestört durch wirre Gedanken über das Leben und den Sinn der Dinge im Allgemeinen und über Stefano und über sie selbst. Sie fragt sich, wer sie wirklich sein will, wie, wo und warum, und ob es wohl stimmt, dass Zweifel interessante Ideen hervorbringen, denn in diesem Augenblick kann sie keinen zündenden Funken erkennen. Dafür mehren sich die Zweifel unentwegt, verfolgen sie, wie schnell sie auch laufen mag, rütteln an jeder armseligen Überzeugung, die sie in den letzten Jahren gehegt hat.
    Ihr fällt wieder ein, wie sie Stefano zum ersten Mal gesehen hat, in dem Hotel in Santa Margherita, wo sie als Direktionsassistentin arbeitete und wo er zu einem zweiwöchigen Urlaub mit seiner Verlobten Susanna anreiste. Sie empfand eine Mischung aus Belustigung und Verlegenheit über seine förmliche, etwas gestelzte Galanterie, wenn er mit ihr sprach und ihr von weitem zulächelte, wenn er die Halle durchquerte, erinnert sich an seine Bitten um unnötige Auskünfte am Telefon, an den Zettel mit einem Gedicht von John Keats, den er ihr eines Morgens unauffällig in die Hand schob, den Kuss, den er ihr unerwartet direkt vor der Abreise im Gepäckraum abrang, den Brief voller erstaunlicher Adjektive, den er ihr an der Rezeption hinterlegte. Obwohl sie es damals nicht wahrhaben wollte, hatte sie es doch bewundert, wie sein Gesicht und der Klang seiner Stimme und sein Haarschnitt und jedes andere Detail an ihm zusammenpassten, gefestigt, stabil, Lichtjahre entfernt von der inneren und äußeren Unordnung Albertos. Dann erinnert sie sich an ihre Überraschung und Bestürzung, als er sie drei Tage nach seiner Rückkehr nach Mailand anrief, um ihr mitzuteilen, dass er sich von Susanna getrennt habe, genau wie er es in seinem Brief versprochen

Weitere Kostenlose Bücher