Sie und Er
bis zum Morgengrauen mit seinen Freunden trinken und singen und rauchen konnte, mit dem Ergebnis, dass der Feigenbaum genau dann verdorrte, als auch ihre Beziehung in die Brüche ging. Sie hatte darin das Sinnbild für seine ständigen Manipulationsversuche gesehen und die Bretter der Plattform nach der Trennung einzeln abmontiert und sie zusammen mit dem Kühlschrank einem Nachbarn geschenkt, dem Alberto später mit harten Forderungen alles wieder abgenommen hatte. Stefano wiederum hasste den Ort von Anfang an, weil er seinen bürgerlichen Maßstäben von Schönheit und Komfort nicht entspricht, weil vor ihm Alberto und noch früher Jack Moletto längere Zeit dort verbracht haben, aber vor allem, weil sie dort ihre wilde, naturverbundene Seite ausleben kann. Mit der Zeit entwickelte er fast eine Art ideologische Abneigung gegen das Häuschen von San Minimo, die sich gelegentlich in Nervenkrisen wie gestern Morgen am Telefon äußert.
Am Anfang verteidigte sie ihr Refugium genauso vehement, wie sie einen guten Freund in Schutz genommen hätte, dann ging sie dazu über, es kaum noch zu erwähnen, so wie sie es auch mit anderen Dingen hält, die ihr wichtig sind und für Stefano eine Bedrohung darstellen. Doch sie ist entschlossen, diese Mischung aus Einfachheit und Natürlichkeit und minimalem Komfort, aus Anspruchslosigkeit und Schwerelosigkeit zu erhalten. Von hier aus gesehen, wirkt die Stadt absurd kompliziert, zeitraubend, anstrengend und aufreibend. Vielleicht kommt sie deshalb viel seltener nach San Minimo, als sie eigentlich möchte: Jedes Mal zweifelt sie erneut an den Gründen, aus denen sie ist, wo sie ist, und tut, was sie tut. Ihr Vater nannte San Minimo den »Garten der Zweifel«, entsprechend seiner Theorie, wonach aus Zweifeln die interessantesten Ideen erwachsen.
Jetzt läutet das Handy beharrlich im unteren Stock. Sie fragt sich, ob sie es einfach überhören soll, dann geht sie die kleine verwinkelte Treppe hinunter. Auf dem Display steht Stefano. Sie zögert noch einmal; schließlich hebt sie ab.
»Mäuschen?«, sagt Stefanos Stimme.
»Ja?« Sie ist verblüfft, wie genau sie den Klang vorausgeahnt hatte, der jetzt in ihr rechtes Ohr tönt.
»Ich wollte dir nur kurz hallo sagen.« Keine Spur mehr von der Spannung des Vortags.
»Ciao«, sagt sie.
»Wie geht’s da bei dir?«, fragt Stefano. »Gut«, sagt sie.
»Und das Wasserrohr, alles in Ordnung?«, fragt Stefano.
Sie braucht ein paar Sekunden, bis sie versteht, wovon er redet. »Ja, alles in Ordnung.« Es tut ihr leid, dass sie ihn angelogen hat, aber so sehr dann auch wieder nicht. Letztlich, findet sie, ist es eine Form von Selbstverteidigung, bedingt durch die Umstände, ohne schwerwiegende Folgen.
»Hör zu, mir ist klar, dass du ein paar Tage allein sein möchtest«, sagt Stefano. »Nach all den Neuigkeiten der letzten Zeit.«
»Welche Neuigkeiten?«, sagt sie mit einem unbehaglichen Gefühl, das sich in mehrere Richtungen ausdehnt.
»Na ja, die neue Wohnung und alles Übrige«, sagt Stefano. »Auch meine Mutter meint, ich hätte dich wahrscheinlich etwas überfordert, weil ich dir gar keine Zeit zum Überlegen gelassen habe.«
»Es iiist so!«, kreischt die schrille Stimme seiner Mutter im Hintergrund.
»Schöne Grüße.« Clare kaut an ihrem Daumen.
»Sie grüßt dich auch«, sagt Stefano.
»Jedenfalls fühle ich mich nicht überfordert«, sagt sie. Oder vielleicht doch; und noch dazu voller Zweifel, Aversionen und Fluchtgedanken.
»Ein Glück«, sagt Stefano. »Mit welchem Zug kommst du zurück, heute Abend?«
»Ich weiß noch nicht«, antwortet sie.
»Wie, hast du noch keine Fahrkarte?« Sofort schwingt wieder ein vorwurfsvoller Ton in seiner Stimme mit.
»Nein«, sagt sie. Sie mag es überhaupt nicht, bei der Abreise schon über die Rückfahrt nachzudenken, und sie mag es auch nicht, so überwacht zu werden. Da wird sie scheu wie ein in die Enge getriebenes Reh, bekommt Lust, zu treten und sich loszureißen.
»Ruf kurz an, wenn du zurück bist, okay?«, sagt Stefano. »Dann weiß ich Bescheid.« Er bietet nicht an, sie am Bahnhof abzuholen: Sein Eifer hält sich in Grenzen, seit die allererste Zeit ihrer Beziehung vorbei ist.
»Ja, gut«, sagt sie. »Versprochen.« Sie möchte einen liebevolleren Ton anschlagen, doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?
»Ciao, Mäuschen«, sagt Stefano.
»Ciao«, antwortet sie.
»Ach, Mama sagt, im August musst du unbedingt nach Ovada kommen«, sagt Stefano. »Du musst eine
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