Sie und Er
hatte, und demnach frei sei. Nachdem sie jahrelang versucht hatte, sich an das chronische Zuspätkommen, die verpassten Züge, die nicht gehaltenen Versprechen, die pubertären Anwandlungen, die übersteigerten Schwärmereien und die Panikanfälle Albertos zu gewöhnen, konnte sie kaum glauben, dass es einen so verlässlichen, pünktlichen, wohlerzogenen Mann gab und dass ein solcher Mann sich auch noch für sie interessierte.
Dennoch brauchte sie mindestens sechs Monate, um sich von Alberto zu trennen; erst, als sie zufällig seine irrsinnige E-Mail-Korrespondenz mit der Sängerin Lisa Grosto entdeckt und ihn nach wochenlangem Zögern und stillem Leiden eines Abends damit konfrontiert hatte, brachte sie die Kraft dazu auf. Er brach in Tränen aus wie ein großes, verstörtes Kind und gestand, dass er tatsächlich ein paarmal mit Lisa Grosto ins Bett gegangen war, als sie im Haus ihrer Eltern in der Nähe von Scilla zusammen geprobt hatten. Selbst da hatte sie noch keine klare Entscheidung treffen können; weitere Wochen widerstreitender Impulse und unergiebiger Gespräche waren nötig gewesen, nutzlose Ratschläge seitens ihrer Schwestern, Freundinnen und Freunde, lange Spaziergänge und schlaflose Nächte. Dann besuchte sie ihn eines Tages in Recco in seiner Atelierwohnung unter der Überführung, um herauszufinden, was seinem Verwirrungszustand zugrunde lag, und da schrie er sie mit unerwarteter Heftigkeit an, er habe das Recht zu machen, was er wolle, und sie solle ihn nicht nerven. Sie lief heulend auf die Straße, und im selben Augenblick rief Stefano sie an, mit seinem akkuraten Akzent, seinem freundlichen Ton. Ein bewundernswertes Beispiel für klare Gefühle, ein Mann, der zu geradlinigen Entscheidungen fähig war und geduldig zwischen tausend Turbulenzen und Unschlüssigkeiten auf sie wartete, ohne je wirklich die Fassung zu verlieren. Er war anders als sie, ja, aber gemessen an Albertos Überheblichkeit und Unzuverlässigkeit und jetzt auch noch Untreue wirkten seine bürgerlichen Qualitäten ungemein beruhigend auf sie. Auf einmal kam sie sich dumm vor, weil sie sein Werben nicht sofort angenommen hatte.
In diesem Licht besehen, scheint es klar, warum sie mit ihm nie ganz sie selbst sein kann: Sie war so entschlossen gewesen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, die schlechten Seiten ihres Charakters abzulegen, ein mental und gefühlsmäßig ausgeglichenerer Mensch zu werden. Deswegen stimmte sie zu, als er sie bat, die Arbeit im Hotel und das Häuschen auf dem Hügel und die Freunde und das Leben an der ligurischen Küste aufzugeben und nach Mailand zu ziehen, in sein Revier. Sie tat alles, um sich seinem Geschmack, seiner Sprache, seiner Zeiteinteilung, seiner Art, mit den anderen umzugehen, seinen Freunden, seiner Arbeit, seiner Mutter anzupassen. Lange dachte sie, das gehöre dazu, wenn man sich von einem halbwilden zappeligen Mädchen zu einer erwachsenen Frau entwickeln wollte, die in der Welt bestehen, heiraten, einen Beruf finden und vielleicht sogar Mutter werden konnte. Doch an einem bestimmten Punkt ist die Verwandlung zum Stillstand gekommen, und ohne es zu wollen, hat sie begonnen, zu ihrem ursprünglichen Selbst zurückzukehren. Wann genau oder warum könnte sie nicht sagen: ob es vom mangelnden Willen abhing, von Stefanos plötzlicher Abneigung, seine Wohnung mit ihr zu teilen, von Enttäuschung, Routine, Monotonie. Sie weiß nur, dass sie in letzter Zeit immer häufiger schwankt zwischen Gleichmut und Aversion, plötzlichen Bedürfnissen, unterdrückten und sogleich wieder aufflackernden Regungen, Unruhe, Erschrecken und Bedauern. Sie fragt sich, ob es eine vorübergehende Phase ist, auf die ein neuer Entwicklungsschub folgen wird, oder ob sie vor einer Art natürlichem Hindernis steht, das nur schwer zu überwinden ist. Sie fragt sich, ob es ihr Schicksal ist, mögliche Leben zu beginnen, um sich zurückzuziehen, sobald es endgültig ernst werden könnte, und ob ihre Träume weniger denn je mit der Wirklichkeit zu tun haben.
Sie läuft an dem verlassenen Haus vorbei, das über dem Maultierpfad am Hang klebt, folgt dem kurvigen Steinmäuerchen zwischen den mit Oliven bebauten Terrassen, atmet den Ziegengeruch ein, den Geruch nach glühender Erde. Die Zikaden spannen immer noch unermüdlich ihre Singmuskeln an, zagzagzagzagzag lassen sie Zweifel über Zweifel in der stehenden Luft vibrieren. Sie läuft durch den Engpass, wo die Brombeerranken den Weg überwuchern und ihr Arme und
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