Sie und Er
Beine zerkratzen, überquert den Graben mit seinem feuchteren und kühleren Lufthauch, biegt nach links ab, läuft die steile asphaltierte Straße hinauf zu dem Haus mit dem gut gepflegten Gemüsegarten und weiter bergauf bis hinter das große verlassene Haus mit der dunkelrosa gerahmten Fassade und dem einstigen Garten, der nun ein Dschungel ist, von wo aus man unten die verbaute Ebene und hinter den Bergen die Autobahn auf Stelzen sieht und aus der Ferne Motorenlärm hört.
Als sie nach Hause kommt, ist sie erschöpft, das T-Shirt und die Shorts sind schweißgetränkt, sie hat Muskelkater, und doch hat sich ihre Unruhe keineswegs gelegt. Sie zieht sich aus und dreht die Dusche auf. Ihr Herz klopft immer noch schnell, fast wie vorher beim Laufen, braucht zwei, drei Minuten, bis es sich beruhigt. Nackt und tropfend überquert sie den Rasen, zieht drinnen ein Höschen und ein T-Shirt an und frottiert sich die Haare, während sie herumgeht.
Im unteren Stock verzehrt sie den letzten Pfirsich, dann greift sie zu der alten Eko, die in der Ecke hinter dem Sofa steht, und spielt ein paar Akkorde. Es ist eine große, schwere Gitarre, die in den siebziger Jahren in Italien gebaut wurde. Sie hat sie von den ersten Ersparnissen in einem kleinen Geschäft in Genua gebraucht gekauft, als sie in dem Büro für technische Übersetzungen ihr erstes italienisches Gehalt bekam. Auch Gitarrespielen gehört zu jenem Teil ihrer selbst, den sie in den letzten Jahren beiseitegeschoben hat, und mindestens das war bestimmt eher ein Verlust als ein Fortschritt. Anfangs interessierte Alberto das kleine Folk- und Bluesrepertoire, das sie von Onkel Harry gelernt hatte, doch ermunterte er sie nie zum Spielen; nur zwei- oder dreimal hatten sie zusammen herumgeschrammelt, dann war Schluss. Es passte ihm nämlich kein bisschen, dass sie ebenfalls ein Instrument spielte: Er wollte sie als inspirierende Muse, als Zuschauerin und Assistentin, gewiss nicht als Kollegin. Was Stefano angeht, so hat er nichts übrig für Musik, das Einzige, was sie ihn je hat singen hören, waren Bruchstücke aus Opernarien, die er von seiner Mutter kannte. Auch er fand es in der allerersten Zeit amüsant, sie singen und spielen zu hören, danach verlor er rasch das Interesse; und einige Monate später verriet er ihr gar, dass er eine Frau mit Gitarre in der Hand, ehrlich gesagt, vulgär finde. Sie war gekränkt, trug es ihm aber nicht nach; ab da spielte sie einfach nur noch heimlich, wenn auch selten.
Jetzt sind die Fingerkuppen ihrer linken Hand wegen der fehlenden Übung zu weich und schmerzen schon nach wenigen Akkorden, die Koordination der Finger ihrer rechten Hand ist mangelhaft. Sie fragt sich, ob es sich lohnen würde, wieder regelmäßiger zu üben, die Gitarre eventuell nach Mailand mitzunehmen, oder ob es besser wäre, sich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Sie fragt sich, ob es in ihrem Leben ein einziges Eckchen gibt, das nicht von Zweifeln durchzogen ist: Nein, scheint ihr, jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Der Gedanke erschreckt sie und bringt sie zum Lachen; sie kratzt sich am Kopf, zieht ein altes Buch mit Folksongs heraus, versucht Lo’ Miss Kathy Had A Cow zu spielen. Es gefällt ihr, wie die Saiten je nach Griff harmonisch vibrieren, jeder Akkord weckt ein besonderes Gefühl. Sie fängt an zu singen, auch wenn sie bei dem Refrain oft die Töne nicht ganz richtig trifft. Die Musik war eines der wenigen fröhlichen Elemente ihrer Kindheit in Rochester: Die Ausflüge im Auto kommen ihr in den Sinn, Tänze mit den Schwestern, Onkel Harold an Frühlingsabenden hinter dem Haus mit seiner Gibson, einer Mandoline aus den zwanziger Jahren. Auf dem Küchenschrank beginnt ihr Handy zu klingeln und zu vibrieren. Wahrscheinlich wieder Stefano, denkt sie, oder womöglich jemand von der Great Assistance, der möchte, dass sie einspringt; sie lässt es klingeln und konzentriert sich auf die Gitarre. Was ihr bei dem großen Hals etwas schwerfällt, ist der Barregriff beim F-Akkord: Es kostet Anstrengung, alle Saiten mit dem quergelegten Zeigefinger herunterzudrücken, ohne dass eine dumpf klingt oder surrt.
Irgendwann schaut sie auf das Handy wegen der Uhrzeit und sieht, dass sie schon los muss, wenn sie nicht zu spät in Mailand ankommen will. Ihr Kopf füllt sich mit Bildern rasch aufeinanderfolgender Handlungen: ihre Sachen wieder in den kleinen Rucksack packen, das Haus abschließen, nach Rapallo fahren, den Motorroller beim Mechaniker am Bahnhof
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