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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Schwester in Nizza gelassen.«
    »Und ist verschwunden?«, sagt sie.
    »Ab und zu kam sie mich besuchen«, sagt er. »Sie schenkte mir Bücher in seltsamen Sprachen, Russisch, Türkisch, Portugiesisch. Manchmal ging sie mit mir ins Kino oder ins Theater oder in ein Konzert, dann verschwand sie wieder.«
    »Hast du sehr darunter gelitten?«, fragt sie.
    Er zuckt die Achseln: »Mir blieben die Bücher in den seltsamen Sprachen.«
    »Aber die konntest du ja nicht lesen«, sagt sie.
    »Ich betrachtete die Umschläge, tagelang«, sagt er. »Ich suchte nach Hinweisen, wovon sie wohl handelten.«
    »Und? Hast du was verstanden?«, fragt sie.
    »Wer weiß«, sagt er. »Jedenfalls tat ich so, als würde ich sie meiner Tante vorlesen, und erfand dabei Geschichten. Ich glaube, so habe ich angefangen.«
    »Wie alt warst du da?« Mitgefühl leuchtet in ihren Augen, ihrem Ausdruck.
    »Vier oder fünf«, sagt er.
    »Ging es dir gut bei deiner Tante?«, fragt sie.
    »Ich war total in sie verliebt«, sagt er.
    »Dann war sie wie eine Mama für dich«, sagt sie.
    »Ja, aber dann hat sie geheiratet«, sagt er. »Sie hat zwei eigene Kinder bekommen, und die Dinge haben sich radikal geändert.«
    »Und deine Mutter?«, fragt sie.
    »Sie hat auch geheiratet«, antwortet er. »Wieder geheiratet. Einen Typen, der in Israel eine Exportfirma hatte, in Haifa. Sie ist dort geblieben, ich habe sie nie wiedergesehen.«
    »Du Ärmster«, sagt sie.
    »Oh, ich wollte kein Mitleid erregen«, sagt er mit gut gespielter Souveränität; aber in Wirklichkeit erschüttert ihn ihre sichtliche Betroffenheit, er kommt sich scheinheilig vor, weil es ihm nicht gelingt, offener zu sein.
    Dann tritt vom Weg her jemand in ihr äußeres Blickfeld, bleibt hinter ihnen stehen. Deserti dreht sich um: ein Typ in einem weiten blau-lila gemusterten Hemd über der Hose blickt ihn an, blickt die Moletto an. Ein blondes Mädchen, tief gebräunt und stark geschminkt, hält ihn an der Hand.
    Die Moletto dreht sich um, ihre Gesichtszüge sind sofort angespannt.
    Der Typ lässt seinen Blick von ihr zu Deserti und wieder zurück wandern: »Was machst du hier?«, fragt er.
    »Ich trinke einen Aperitif.« Sie lächelt, ist aber in der Defensive.
    »Danke, dass du mich nie zurückgerufen hast, was?«, sagt der Typ. Er ist groß, mit schütterem Haar, das ihm in die flache Stirn hängt und hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst ist. Unaufhörlich tritt er von einem Fuß auf den anderen, knetet seine Hände; sein Brustkorb bewegt sich unter dem Clownshemd auf und ab vom heftigen Atmen.
    »Ach hör doch auf, Alberto.« Ihr gelassener Ton scheint eine Frucht langer Übung zu sein.
    »Danke, dass du mich aus deinem Leben rausgeschmissen hast wie einen räudigen Hund, was?«, sagt Alberto lauter. »Tausend Dank, echt!«
    An den anderen Tischen drehen sich einige Köpfe und schauen zu ihnen herüber. Das blonde Mädchen lässt die Hand des Typen los und stöckelt auf ihren zu hohen Absätzen mit erbosten, wackeligen Schritten auf die Felsen zu, die zum Meer hinunterführen.
    »Und wer ist das?«, fragt Alberto mit Blick auf Deserti, verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere, kratzt sich am Hals; seine Lippen zittern. »Hast du dir schon wieder einen Neuen angelacht?«
    Deserti setzt sich auf, Adrenalin schießt ihm in Kopf und Muskeln.
    Die Moletto drückt ihm eine Hand auf die Schulter, damit er sitzen bleibt: »Das ist ein Freund von mir, er heißt Daniel.«
    »Na klar, ein Freund, was sonst!«, höhnt Alberto. »Dann war es gar nicht die Beziehung deines Lebens, wie du behauptet hast, mit deinem Scheißanwalt aus Mailand! Alles, was wir hatten, hast du gnadenlos weggeworfen, um zwischendurch mal zwei, drei Jahre brav und bürgerlich zu vögeln, und jetzt bist du schon wieder hier als Nutte unterwegs!«
    »Pass auf, was du sagst!«, sagt Deserti. Er springt auf, im Kopf eine stark komprimierte Bewegungsabfolge: den anderen am Kragen packen, ihn gegen die Felswand knallen, ihm mit dem Knie einen Stoß in den Unterleib verpassen, ihn am Arm nach vorn reißen und ins Meer stoßen.
    »Halt’s Maul, du!«, sagt Alberto. Seine Augen gleichen toten Schnecken, die wieder lebendig werden, wieder tot, wieder lebendig: schleimig, beharrlich, schlüpfrig, herausfordernd, hemmungslos.
    Deserti packt ihn am Hemd, schiebt ihn heftig rückwärts, ist aber abgelenkt von dem Sandelholzparfüm und dem schweißgetränkten Stoff, von der kranken Überheblichkeit in seinem Blick und dem

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