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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Klang ihrer Stimme, ihrem Blick.
    »Sie würde das nie zugeben«, sagt die Moletto. »Sie hat ein hochgradig intellektuelles und spirituelles Verhältnis zum Leben. Vor zwei Jahren hat sie ihr Studium in Religionsgeschichte an der Uni von San Diego abgeschlossen, mit vierundsiebzig.«
    »Jedenfalls bestand diese andauernde körperliche Spannung zwischen ihnen«, sagt er.
    »Ja«, sagt sie. »Und gleichzeitig funktionierte ihre geistige Verbindung überhaupt nicht. Unser Vater fühlte sich als Mann von Natur aus überlegen. Er hatte diese intellektuelle Arroganz, so als wüsste er alles über die Mechanismen der Welt und sie gar nichts.«
    »Und wie reagierte eure Mutter darauf?«, fragt er.
    »Mit Rückzug«, antwortet sie. »Auf einmal war sie weit weg und völlig unfassbar.«
    »Kümmerte sie sich denn um euch?«, sagt er.
    »Oh, sie hat uns immer gegeben, was wir brauchten«, sagt sie. »Wir hatten genug zu essen und zum Anziehen, gingen in die Schule.«
    »Und sonst?«, sagt er.
    »Sonst war sie eine Sphinx«, antwortet sie. »Undurchschaubar.«
    »Und euer Vater? Kümmerte der sich um euch?«, sagt er.
    »Wenn er nicht gerade in Malaysia war oder in Kambodscha«, sagt sie. »Oder auf Ceylon oder in Nicaragua oder so.«
    »Wenn er da war«, sagt er.
    »Er setzte uns die ganze Zeit unter Druck«, sagt sie.
    »Wie, unter Druck?«, fragt er, obwohl ihm klar ist, dass sie ihm das vielleicht gar nicht erzählen möchte.
    »Er hat uns ständig gedrillt, auf die Probe gestellt«, sagt sie. »Wir sollten noch schneller reagieren, noch besser, damit wir in jeder Notlage zurechtkommen.«
    »Und ihr?«, fragt er.
    »Wir gaben unser Bestes«, erwidert sie. »Doch er wirkte immer etwas enttäuscht.«
    »Warum denn?« Deserti schüttelt leise den Kopf.
    »Ich glaube, er hätte lieber Söhne gewollt«, sagt sie.
    »Die Familie ist einfach eine entsetzliche Einrichtung«, sagt er. »Sie ist ein vom Gesetz geschützter Ort des Verbrechens.«
    »Aber nicht immer«, sagt sie.
    »Fast immer.« Er denkt an seine Familie, seine Familien.
    Sie zuckt die Achseln, schaut weg; es ist klar, dass sie nicht darüber reden will.
    »Jedenfalls ist zum Schluss was Gutes rausgekommen«, sagt er. »Wenn man dich ansieht.«
    »Ich weiß nicht«, sagt sie.
    »Die interessantesten Menschen kommen off aus schwierigen Situationen.«
    »Vielleicht.« Sie lächelt schwach. Ihre Haut ist durchsichtig wie die ihrer Mutter: Man sieht die kleinen Adern an den Schläfen, auf der Stirn - Zeichen von Empfindsamkeit und Seelengröße.
    »Wenn es keine Probleme gibt, kommen nur Dummköpfe heraus«, sagt er. Er fragt sich, ob es am Alkohol liegt, dass er so beharrlich ist; oder an dem glühenden Licht, am Plätschern der kleinen Wellen auf den Felsen, daran, dass er so nah neben ihr sitzt, obwohl er sie kaum kennt.
    »Und woher stammst du?«, fragt sie, um sich dem Verhör zu entziehen.
    »Meine Mutter kam aus Nizza«, antwortet er, »mein Vater war halb Sizilianer, halb aus Uruguay.«
    »Auch eine schöne Mischung.« Sie lacht.
    »Ja«, sagt er, auch wenn ihm gar nicht danach ist, jetzt seine Autobiographie zu schildern.
    »Wo sind sie sich begegnet?« Die Neugier in ihren Augen ist echt, lebhaft, nicht aufgesetzt.
    »In Genua.« Er zeigt in Richtung Küste.
    »Tatsächlich?« Überrascht richtet sie sich auf.
    »Ja«, bestätigt er, bezaubert von ihrem Mienenspiel.
    »Und was haben sie gemacht, in Genua?«, fragt sie.
    »Meine Mutter war Schauspielerin im Ensemble ihrer Familie«, sagt er. »Und mein Vater war ins Theater gegangen, um das Stück zu sehen.«
    »Und es war Liebe auf den ersten Blick?« Sie mustert ihn, um seine Antwort zu erraten.
    »Das meinten sie«, erwidert er mit einem leichten Schauder im Nacken. »Aber die Geschichte konnte nicht gutgehen.«
    »Warum?«, fragt sie.
    »Weil sie quicklebendig war und er langweilig«, sagt er.
    »Ein weiterer Fall von Anziehung der Gegensätze. Es bestand keine Hoffnung, dass es langfristig funktionieren würde, null.«
    »Und wie ist es ausgegangen?« Sie blickt ihn weiterhin forschend an.
    »Als ich zwei Jahre alt war, haben sie sich getrennt«, sagt er. »Meine Mutter hatte das Gefühl, in dem bürgerlichen Leben zu ersticken, mein Vater konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Frau wieder als Schauspielerin arbeiten wollte.«
    »Dann bist du allein bei deiner Mutter aufgewachsen?«, fragt sie.
    »Sie konnte kein zweijähriges Kind gebrauchen.« Er schüttelt den Kopf. »Sie hat mich bei ihrer

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