Sie und Er
sie aus Versehen die E-Mail-Korrespondenz der beiden entdeckt hatte. Wieder Staunen, diesmal umgekehrt, lähmend.
»Du hast seine Charakterfehler als faszinierende Eigenschaften gedeutet«, sagt Daniel Deserti. »Seine krankhafte Egozentrik als Kreativität, seine Schlauheit als Intelligenz, seine Überdrehtheit als positive Energie. Wenn das nicht grenzenlose Großzügigkeit ist, was dann?«
»Ich bin nicht grenzenlos großzügig«, sagt sie. Sie denkt, dass ihre Großzügigkeit ein Wesenszug ist, den die Männer ihr kurioserweise gern zum Vorwurf machen, nachdem sie genug davon profitiert haben. So war es mit ihrem Vater und mit Jim Lowell, ihrem ersten Freund, mit Luigi, mit Alberto und mit Stefano.
»Das ist eine sehr kostbare Gabe«, sagt er. »Und sehr gefährlich.«
Sie antwortet nicht, trinkt einen Schluck Wein. Das Essen lässt weiter auf sich warten; das Lokal ist nicht berühmt für schnellen Service. Sie fragt sich, warum sie mit ihm hier sitzt.
»Wie auch immer«, sagt er. »Wahrscheinlich ist Alberto dir so interessant vorgekommen, weil du vorher mit jemandem zusammen warst, der todlangweilig war.«
»Todlangweilig nicht«, sagt sie. Doch sie dreht den Kopf zu den Lichtern des Dorfes hin, und unvermittelt überwältigen sie die Empfindungen eines Sonntagnachmittags mit ihrem Mann Luigi, an dem sie buchstäblich den Eindruck hatte, in einem Meer von Langeweile zu ertrinken.
»Wie hieß er?«, fragt Daniel Deserti.
»Luigi«, sagt sie widerwillig.
»Was für ein Typ war er?« Deserti übt nicht eigentlich Druck aus, doch sein Blick und sein Ton halten diesen Fluss zwischen ihnen aufrecht, es ist schwierig, dagegen anzukommen.
»Seinetwegen bin ich nach Italien gekommen«, sagt sie. »Wo hast du ihn kennengelernt?«, fragt er. »In Venedig? In Rom?«
Vehement wehrt sie sich gegen seine Klischeevorstellung: »In der Nähe von Lucca. Ich bin da zufällig auf eine Party geraten.«
»In einem wunderbaren italienischen Frühling oder Sommer«, sagt er. »Die süß duftende Luft der ländlichen Toskana, der Wein, die Musik.«
»Ich war zwanzig«, sagt sie barsch. »Um die Reise zu bezahlen, hatte ich ein Jahr lang jeden Nachmittag in einem Kentucky Fried Chicken gearbeitet.«
»Hast du nicht studiert?«, fragt er.
»Nur zwei Jahre, an der Uni von Buffalo«, sagt sie. »Dann haben meine Eltern sich getrennt, es war nicht genug Geld da, ich habe geheiratet und bin nach Italien gezogen, Schluss.«
»Welches Fach?«, fragt er.
»Literatur«, sagt sie.
»Und hast du es bedauert, dass du nicht fertigstudieren konntest?«, sagt er.
»Ja.« Sie denkt an ihre Unsicherheit, die ab und zu wieder hochkommt, wenn sie mit Leuten zusammen ist, die eine akademische Bildung genossen haben: wie Luigi seine Schulbildung ausspielte oder wie Stefano sorgsam ausgewählte Namen und Zitate fallenlässt. Albertos intellektuelle Unbelecktheit war eine Erleichterung, zumindest am Anfang, sie fühlte sich unbeschwert wie eine Gymnasiastin in den Ferien. Mehrmals erwog sie, sich an einer italienischen Universität einzuschreiben und einen Abschluss zu machen, aber es gab immer zu viel anderes zu tun, und sie fand nie die Zeit dazu.
»Das war auch nicht nötig«, sagt er. »Man hätte dir den Kopf nur mit Allgemeinplätzen vollgestopft, die ein paar Generationen toter Akademiker perfektioniert haben. Du hast wirklich nichts verpasst, glaub mir.«
»Na, ich wäre trotzdem sehr froh gewesen, wenn ich den Abschluss hätte machen können.« Der polemische Unterton, den sie aus seinen Worten heraushört, drängt sie in die Defensive. Sie trinkt noch einen Schluck Wein, dreht sich um und hält ihr Gesicht in den lauen Wind, der jetzt vom Meer heraufweht.
»Mit welchen Vorstellungen kamst du nach Italien?«, fragt er. »Wolltest du zum italienischen Teil deiner Wurzeln zurückkehren? Etwas über dich herausfinden?«
»Vielleicht auch«, sagt sie. Sie würde gern Widerstand leisten, die Tür zumachen oder wenigstens anlehnen, aber sie schafft es nicht. »Eine Großtante von mir hatte eine Sammlung herrlicher Postkarten vom Mittelmeer, französische Riviera, italienische Riviera, Golf von Neapel… Sie standen bei ihr auf dem Kaminsims, und jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, konnte ich mich gar nicht satt sehen. Ich träumte davon, eines Tages dorthin zu fahren.«
»Und sobald es ging, hast du dich aufgemacht«, sagt er.
»Mit einer Freundin namens Betty Valerio«, sagt sie. »Die lebt jetzt in Orlando in Florida. Wir sind
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