Sie waren zehn
Liebesraserei und nannte sich den glücklichsten Menschen unter der Sonne.
Am Montagmorgen, kurz nachdem Major Wolnow das Haus Nummer 19 in der Lesnaja uliza verlassen hatte und dabei beobachtet worden war, setzte Milda Ifanowna ihren langen Funkspruch an einen anderen Kontaktmann ab. Der Spruch wurde weitergegeben, immer mit nicht zu ortenden Kurzwellensendern geringer Reichweite, bis er vom letzten Glied der Nachrichtenkette über die Front hinweg zum Generalkommando der deutschen 2. Armee gefunkt wurde.
Der Ia der Armee las den Funkspruch und wurde nachdenklich. Daß am 20. Juni die große sowjetische Offensive beginnen sollte, war ihm neu. Andere Quellen hatten das Datum auf den 22. Juni festgesetzt. Aber ob zwei Tage früher oder später – die Lage war rundum beschissen. Ein Vergleich der Luftbildaufnahmen sagte genug: Auf russischer Seite ein tief gestaffeltes Stellungssystem, aus dem die sowjetischen Armeen hervorbrechen würden – auf deutscher Seite verstreute Mulden, sogenannte Schützenlöcher, armselige Vertiefungen, in denen die Soldaten lagen wie auf einem riesigen Tortenteller, verbunden mit schmalen Gräben, an denen hie und da ein Erdbunker lag, Bodenlöcher mit Balkendecken und Erdaufschüttungen, die der Volltreffer einer 20,5-Granate zum qualmenden Riesentrichter machen konnte. Und hinter den deutschen Stellungen dezimierte Artillerie, die ihre Granaten zählen mußte. Panzerverbände, deren Tigerpanzer kaum noch Benzin hatten. Werferbatterien, die auf leeren Kästen saßen. Bodenflak, die verzweifelt anfragte, was sie tun sollte, wenn die Iwans mit ihren Panzerarmeen aufbrachen. Der Nachschub rollte nur zähflüssig, die immer erfolgreichere Invasion in Frankreich verbrauchte mehr Material, als man im Führerhauptquartier eingeplant hatte. Rommel schrie jeden Tag nach mehr Soldaten, mehr Panzern, mehr Munition. Über den Ärmelkanal schifften die Amerikaner und Engländer fast ungestört ihre dritte Besatzungswelle heran und mit ihr ein Gebirge an Material.
Was blieb da noch für die Ostfront übrig? In der Heimat versanken die Fabriken im Bombenhagel und einem Flammenmeer aus Phosphor.
Der Ia der 2. Armee legte den Funkspruch in eine rote Mappe und ging mit ihr hinüber zu seinem Kommandierenden. »Das Datum kann nicht stimmen!« sagte der General. »Aber was soll's? Und die politischen Ansichten – das wird das Problem späterer Generationen sein, die alles besser machen wollen. Vernichten Sie den Funkspruch gründlich, mein Lieber. Nach diesem Krieg wird unsere Generation in den Augen unserer Kinder und Kindeskinder sowieso die Generation der Vollidioten sein! Vielleicht sind wir es auch. Wie anders ist es möglich, daß wir hier 'rumliegen, nur weil ein Mann das befiehlt? Das wird eine Frage sein, die man uns immer wieder stellen wird. Und wir werden antworten: Wir starben hier, um die bolschewistische Woge aufzuhalten. Schon einmal ist Europa gerettet worden, als Prinz Eugen die Osmanen aufhielt. Und vorher waren es die Hunnen, die von deutschen Rittern zurückgeschlagen wurden. Später gab die Geschichte einem aktuellen Wahnsinn immer recht, und aus Idioten wurden plötzlich Helden und Retter des Abendlandes. Nur befürchte ich, daß es uns anders ergeht. Dieser Krieg wird zum Trauma der Deutschen werden. Da kann dieser ungenannte Informant schon recht haben: Rußland wird die Weltpolitik bestimmen, und es gibt da keine krummen Wege mehr. – Aber wen interessiert das jetzt? Am 19. Juni 1944? Verbrennen Sie den Funkspruch! Er bringt uns nicht weiter.«
In Moskau kaufte Milda Ifanowna ein. Mit vielen anderen Frauen stand sie in der Schlange vor einem Bäckerladen und wartete auf ihre Zuteilung. Aus dem Laden wehte der Duft frischen Brotes über die Straße. Es war heiß und stickig in Moskau. Aber der Himmel glänzte wie hellblaue Seide.
An diesem Tag nahm Major Wolnow an einer Lagebesprechung bei Stalin teil. Er erfuhr die Pläne der nächsten vier Wochen und die Ziele, die sich die Offensive gesteckt hatte. Der Bug, der Narew und die Weichsel sollten erreicht werden. Dann folgte die Umklammerung Ostpreußens, der Vorstoß nach Polen, die Befreiung der Ukraine und im Norden die Wiedereroberung der baltischen Provinzen. Der Süden war sowieso schon seit dem 23. Dezember 1943 in Bewegung. Die Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall von Manstein war am 1. April 1944 durch einen Befehl Hitlers aufgelöst worden, nachdem sie auf ihrer ganzen Länge zurückgeworfen worden war. Die
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