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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Wie ein gütiger Onkel blickte er drein, so wie alle Diktatoren auf Bildern gütig blicken – oder stolz, unnahbar, sieghaft: immer ein Idol, ein Vorbild, ein irdischer Gott.
    »Sie lieben Stalin?« fragte er.
    »Ich verehre ihn. Er ist ein großer Staatsmann. Was wäre Rußland heute ohne ihn und Lenin?«
    »Ja, wer kann das wissen?!«
    »Er hat uns Menschen befreit!«
    »Fühlen Sie sich frei, Ljudmila Dragomirowna?«
    »Ja. Vollkommen! Der Krieg bringt Einschränkungen, das ist natürlich. Aber nach dem Krieg, nach dem Sieg, werden wir die freiesten Menschen der Welt sein. Daran glaube ich.«
    »Es ist wunderbar, so einen Halt zu haben«, sagte Plejin und wandte sich von Stalins Bild ab. Ljudmila hatte sich in die Küche begeben und holte von einem Regal eine Schüssel und einige Tüten. »Was gibt das?« fragte er.
    »Haben Sie keinen Hunger? Ich habe einen wie eine Raupe!« Sie setzte den Gasbackofen in Tätigkeit und suchte nach einem Quirl. »Fleisch gibt es heute nicht. Aber ich habe Milch hier, und Mehl, Zucker, Eier, Butter, Hefe und 30 Gramm Wodka. Ich backe uns ein ›Altes Mütterchen‹. Einverstanden?«
    Plejin kannte kein ›Altes Mütterchen‹, aber er ahnte, daß es eine Art Kuchen sein mußte. Da haben wir einen Fehler bei aller Perfektion, dachte er fast schadenfroh. Herr Oberst von Renneberg, vom ›Alten Mütterchen‹ hat uns Milda Ifanowna nichts erzählt. Aber anscheinend gehört es zur russischen Küche.
    »Das Wasser läuft mir im Mund zusammen!« sagte Plejin und setzte sich in einen der hellen Sessel. Er setzte sich so, daß er Stalin im Rücken hatte. Ihn dauernd ansehen zu müssen, wollte er seinen Nerven nicht zumuten. Er fühlte, wie alles in ihm vibrierte, als seien seine Adern und Nerven nichts als angeschlagene Saiten.
    Nach dem Essen – es war wirklich ein ziemlich süßer Kuchen, den sie dampfend verschlangen und der in ihren Mägen noch einmal aufquoll, was ein Gefühl unheimlicher Sättigung erzeugte – tranken sie eine mit Kunstzucker angesetzte Limonade, weil Ljudmila keinen Tee in der Wohnung hatte. Sie saßen nebeneinander auf einer Holzbank am Fenster und blickten hinüber zur Polnischen Kirche. Die Straße unter ihnen war leer, der Abend warf lange Schatten auf das Pflaster. Hier schien Moskau ausgestorben zu sein, obwohl die Kirow-Allee und die breite Dschershinski -Straße in unmittelbarer Nähe lagen.
    »Ich weiß, die Wohnung könnte anders aussehen«, sagte die Tscherskasskaja. »Aber für wen? Ich lebe in der Dienststelle. Hier bin ich selten. Aber wir können Musik machen …«
    »Wie?«
    »Ich habe ein Grammophon. Und genau zweiunddreißig Platten. Sinfonien, Opern – und eine Platte mit Tangos. Kolka, können Sie Tango tanzen?«
    Das war gefährlich. Plejin überlegte blitzschnell eine Antwort. Wieder eine Lücke in der Vorbereitung: Wie weit und in welchen Kreisen ist der Tango in Sowjetrußland verbreitet? »Sie können es, Ljudmila Dragomirowna?« wich er aus.
    »Ja! Die meisten Männer glotzen mich dumm an, wenn ich sie frage.«
    »Ich auch.« Plejin atmete auf. »In der Opernschule sollten wir auch tanzen lernen. Das muß man ja können auf der Bühne. Aber bevor der Kursus begann, zog man mir die Uniform an.«
    »Ich bringe es Ihnen bei, Kolka.« Sie sprang auf, schleppte das Grammophon, einen großen viereckigen Holzkasten mit einer Nadelmembrane und einem versenkten Trichter, aus dem Nebenzimmer, stellte es auf den Boden und zog die Feder mit der Handkurbel auf. Mit der anderen Hand hielt sie die schwarze Schellackscheibe hoch. »Eine deutsche Platte ist es sogar!« sagte sie. »Wenn sie nicht so selten wäre, hätte ich sie längst zertrümmert.«
    »So hassen Sie die Deutschen?«
    »Ich könnte jedem Deutschen mit einem tatarischen Schwert den Kopf abschlagen! Sie nicht, Kolka?«
    »Aber ja!« Plejin schnaufte durch die Nase. Der Druck in seiner Brust wurde unerträglich. Was Ljudmila sagte, waren nicht so dahergeplapperte Worte – sie meinte es wirklich so. Er konnte sie sich vorstellen, wie sie mit beiden Händen das Schwert umklammerte und zuschlug. Und er begriff nicht mehr, warum ihn diese Frau dennoch verzauberte.
    Plejin las das Plattenetikett. Tangos aus Südamerika. Bernhard Etté und sein Orchester.
    Die große Zeit der Berliner Tanz-Cafés. Der Zaubergeiger Dajos Bela. Marek und sein Tanzorchester. Und natürlich Bernhard Etté . Er hatte das nie erlebt, er war ein Kind damals, er kannte es nur von Erzählungen der Älteren und von

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