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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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kritische Augenblick – die Kontrolle der Kremlwache – erwies sich als bare Lächerlichkeit. Jeder kannte die Lastwagen der Baubrigade; daß die Fahrer überhaupt noch anhielten, war reine Freundschaftssache, denn es wurden dann schnell Papyrossi gegen Wurst getauscht. Die Verpflegungszuteilung für Militär und Zivilisten unterschied sich nämlich: Während die Schwerarbeiter Sondermarken für Fett und Fleischwaren erhielten, bekamen die Soldaten mehr Zigaretten. Sogar belegte Brote wurden eingetauscht, Marmelade und ein selbsterfundener neuer Brotaufstrich aus Grieß, Zwiebeln, Salz und einigen Gewürzkräutern. In kleine runde Steintöpfchen wurde er ausgegossen und erstarrte dort wie Schmalz. Die Soldaten waren ganz verrückt danach und handelten solch ein Töpfchen höher als einen Kanten Dauerwurst.
    Der Kontrolloffizier und zwei Rotarmisten blickten in den Lastwagen, zählten die auf den Holzbänken hockenden Arbeiter, unterschrieben ein Passierpapier und winkten. Langsam rollten dann die Wagen jenseits der hohen Mauer über die breite Kremlstraße, vorbei am Ministerrat der UdSSR mit seiner riesigen Kuppel, bogen ab, umkreisten die Zwölf-Apostel-Kathedrale und den Patriarchenpalast, fuhren – als seien sie bevorzugte Gäste, denen man alles zeigen wollte – entlang den ergreifenden Fassaden der Mariä-Himmelfahrts- und der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und hielten an einer Seitenwand des Großen Kreml-Palastes. Hier waren Gerüste aufgebaut, die bis fast an das Dach reichten. Gerüststangen, Leitern, Bohlen und Bretter stapelten sich auf dem Platz neben dem Facetten-Palast.
    Iwanow kletterte als letzter vom Wagen und blickte sich um. Ein früher, heller, schon warmer Tag war es, die goldenen Kuppeln der Kremlkirchen leuchteten und blendeten die Augen, die vielen hundert Fenster der Paläste schimmerten wie Spiegel. Vereinzelte Militärpatrouillen standen herum, vom Eingang im Borowitzki-Turm rollten die Limousinen der höheren Offiziere in den Kreml, fuhren vor das Tor des riesigen Gebäudes, luden die Männer mit den breiten Schulterstücken und den Ordensbändern ab und verschwanden zu den Parkplätzen.
    Hier entscheidet sich das Schicksal unserer Welt, dachte Iwanow. Hinter dieser prächtigen Fassade lebt die Schaltstelle einer Macht, die sich unbesiegbar nennt. Von dem, was er jetzt sah, war er weniger beeindruckt, als er erwartet hatte. Milda Ifanownas Schulung in Eberswalde war so konzentriert gewesen, daß sich Iwanow in dieser Stunde, da er zum erstenmal im Kreml stand, fast heimatlich fühlte. Mit geschlossenen Augen könnte ich hier herumlaufen, dachte er. Jede Ecke kenne ich, jeden Winkel, jeden Weg, jedes Türmchen, jede Mauernische. Sogar die Busch- und Baumgruppen haben wir auswendig gelernt, in Hunderte von Einzelteilen hatten wir den Kreml fotografisch zerlegt und dann wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt. Hier ist mir nichts mehr fremd, ich kenne das Gewirr der kleinen Höfe, die Treppen und Gänge, die Seiteneingänge und die Labyrinthe unter der Erde. Woher Milda Ifanowna dieses einmalige Material hatte – es hatte keiner danach gefragt. Oberst von Renneberg war von Canaris angehalten worden, nicht mehr herauszuforschen, als notwendig war. »Sie weiß es«, hatte man bei der Abwehr gesagt. »Was sie heranbringt, ist phänomenal! Vieles ist von uns aus nicht nachprüfbar, weil wir einfach keine Unterlagen besitzen. Da gibt es zum Beispiel aus dem Arbeitsbereich Stalins einen geheimen Fluchtweg, der nur einer Handvoll Eingeweihter bekannt sein dürfte. Wir kennen ihn jetzt! Auf Fragen reagiert Fräulein Kabakowa mit Schweigen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als voll zu glauben, was sie uns anbietet.«
    Iwanow zuckte zusammen. Der Vorarbeiter, ein dicker Mensch mit einem Gesicht voller Pickel, von denen er behauptete, sie kämen vom Gurkenessen, dagegen sei er empfindlich, aber es gebe ja kaum noch etwas Schmackhafteres als Gurken, hatte sich neben Iwanow gestellt und lachte ihm ins Ohr.
    »Da schlägt das Herz, was?« rief er. »So etwas kann man nur bei uns erleben! Kein Geheimnis gibt es mehr! Da oben, Gerüsthöhe V, neunzehntes Fenster von links, da kannst du die Offiziere sehen, wie sie scheißen! Und dahinter, Fenster dreiundzwanzig von rechts, Gerüsthöhe III, da liegen die Büros der Sekretärinnen. Genosse, vor zwei Wochen haben wir da am Gerüst gehangen wie ein Bienenschwarm. Schon dunkel war's! Und was sehen wir: Läßt da oben ein Major die Hose fallen und biegt

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