Sie waren zehn
Kolka! Oder wollen Sie ins Bett?! Sie sind müde? Bei Ihrer Jugend?«
Plejin goß aus Dytschkins Karaffe nach und setzte sich dann auf die Tischkante. Der Grenzwall zwischen ihm und der Tscherskasskaja wurde niedriger. »Es war ein Schock für Sie, nicht wahr, Ljudmila Dragomirowna?«
»Neun Tage war ich wie gelähmt. Dann konnte ich Alma-Ata nicht mehr sehen und fuhr nach Moskau. Der Bruder meiner Mutter war hier Major der Miliz. Bei ihm wohnte ich, bei ihm weinte ich, bis ich ausgetrocknet war und meine Augen nur noch brennen konnten. Er stellte mich der Kommandantur vor, und ich trat in die Miliz ein.«
»Warum haben Sie nie geheiratet?« fragte Plejin.
»Wen?« Sie lachte mit jenem girrenden, singenden Ton, der in einen eindrang und sich dort festfraß. »Jedem Mann blicke ich zuerst in die Augen. Und was sehe ich da: Gier! Nichts als Gier! Schmieriges Verlangen. Klebrige Geilheit! Nicht einer war dabei, der mich fragte, wer ich bin, was ich denke … Ihr ganzes Interesse galt nur dem Körper.«
Plejin entschloß sich, auch noch ein Glas zu trinken, weniger, weil er Durst empfand, sondern um sich von Ljudmila abwenden zu können und nicht durch seine Augen zu verraten, wie intensiv ihr Körper auch auf ihn wirkte.
»Darf man fragen«, sagte er, während er sich einschenkte, »woher Sie jetzt kommen? Sie sind doch in Moskau stationiert?«
»Ich habe einen Transport begleiten müssen. Nach Iwanowo. Gefangene deutsche Offiziere. In Moskau wurden sie verhört, selektiert.«
Um Plejins Herz wurde es eiskalt. »Was heißt selektiert?«
»Ein Teil erklärte sich bereit, gegen Hitler zu kämpfen, und sah seinen Irrtum ein, sich an einen Eid zu binden, den man einem Irren geschworen hatte. Der andere Teil ließ sich nicht überzeugen. Sie kamen nach Iwanowo. Dort ist ein großes Offizierslager. Auf dem Rückweg versagte der Mist-Jeep.« Sie sah ihn über dem Glasrand an. »Noch Fragen, Kolka?«
»Eigentlich nicht.« Plejin dachte kurz an die gefangenen deutschen Offiziere. Von diesem ›Komitee Freies Deutschland‹, das deutsche Offiziere gebildet hatten, um durch Propaganda an den Fronten die deutsche Kampfmoral zu erweichen, hatte er nur vage gehört. In Frankreich war das kein Gesprächsstoff gewesen, dort kümmerte man sich mehr um die Betten der schönen Französinnen und um Adressen, wo man Cognac und Champagner erwerben konnte. Ob da an der Ostfront Flugblätter über die Stellungen regneten und über riesige Lautsprecher Lockparolen ins Land hallten – das war so weit weg von den Schenkeln der süßen Lorette, und über Stellungen sprach man hier nur in einem anderen Zusammenhang. Zum erstenmal hörte Plejin jetzt, daß die sowjetische Führung diese umgepolten deutschen Offiziere sehr ernst nahm und sich viel von ihnen versprach. Genausoviel wie eine Gruppe im OKH , die zehn deutsche Offiziere über Rußland abgesetzt hatte, damit sie Stalin ermordeten …
Und einer bin ich, dachte Plejin. Und ich sitze hier mit einem weiblichen Offizier der Miliz, der mich, den kommenden Mörder, sicher nach Moskau bringen wird … Das würde keiner glauben – sofern man das später einmal erzählen könnte. »Ich habe doch noch eine Frage«, sagte Plejin.
»Keine Hemmungen, Kolka.« Die Tscherskasskaja lachte schon etwas trunken. Sie merkte Dytschkins Brombeerwein jetzt auch, ein Höllengesöff, das dazu anregte, Liter von ihm zu trinken, bis es plötzlich mit Urgewalt zuschlug und die Hirnnerven lähmte. Heiß wurde es im Raum, sie zog die Uniformjacke aus und warf sie über den Tisch. In ihrer grünen Bluse, über den Brüsten etwas zu eng, verlor sich der Eindruck knabenhafter Schlankheit vollends, den die Uniform vorgespiegelt hatte. Nur vom Gürtel ab änderte sich nichts; aus ihren schmalen Hüften wuchsen schlanke Beine von klassischem Ebenmaß – das sah man, obwohl sie in Stiefeln steckten. Mit beiden Händen kämmte Ljudmila ihr schwarzes Haar nach hinten und legte ihre Stirn frei. Der dunkle Bernstein ihrer Augen glänzte im Schein der freihängenden Glühlampe. »Was wollen Sie wissen? Noch ein Glas Wein – und ich erzähle Ihnen hemmungslos, wie sich die Männer zu meinem Bett drängten! Warum ich das gerade Ihnen erzähle? Sie sind so jung, Kolka … für Sie ist das alles noch wie ein Märchen, was?«
Plejin atmete tief durch. Irgendwie schmerzte ihn die unerwartete Frivolität der Tscherskasskaja. Ihn schmerzte auch, daß sie ihn nicht als vollen Mann ansah. Ich komme aus Frankreich, Ljudmila
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