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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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leben und einen ungewöhnlichen Befehl ausführen werden. Unsere Hilflosigkeit brennt mir im Herzen. – Ich danke Ihnen, Genossen …«
    Bevor Oberst Smolka nach einem langen Telefongespräch mit dem militärischen Stab Stalins zum Kreml fuhr, ließ er sich mit dem Lift hinunter in den Keller bringen und besichtigte die beiden Zinksärge aus Kalinin. Die vier Milizionäre hielten noch immer Wache und froren in den kalten Gewölben. Sie trugen Sommeruniformen.
    »Sollen wir öffnen?« fragte einer von ihnen, ein Feldwebel. Oberst Smolka zögerte. Der Anblick dieser Toten bescherte keine neuen Erkenntnisse. Zwei nackte Menschen, der eine mißhandelt und erschlagen, der andere blaugesichtig vom Zyankali.
    »Kein guter Anblick, Herr Oberst«, sagte der Feldwebel trocken.
    Smolka nickte, wandte sich ab und verließ den Keller. Er befahl noch, die Särge in die gerichtsmedizinische Pathologie bringen zu lassen, wo auch die Überreste des zertrampelten Deutschen lagen, setzte sich dann in seinen großen, schwarzen Wagen und fuhr zum Kreml.
    Und auf dieser kurzen Fahrt verdichtete sich in ihm ein Gedanke, der so abenteuerlich war, daß Smolka sich sagte: Sprich ihn nicht aus, jetzt nicht, jetzt noch nicht. Es würde nichts anderes übrigbleiben, als mich als Irren abzuführen …
    Was Smolka erwartet hatte und was auch ganz natürlich war: er wurde nicht zu Stalin geführt. Wer im Kreml Stalin gegenübertreten durfte, mußte mehr bringen als die Meldung, daß deutsche Offiziere rund um Moskau abgesprungen waren. Aber es war schon eine Ausnahme und eine Ehre für Oberst Smolka, daß er in die unmittelbare Nähe von Stalin gebeten wurde, in ein Zimmer des Führungsstabes, viermal kontrolliert und telefonisch angemeldet.
    Empfangen wurde er von General Jefim Grigorjewitsch Radowskij. Oberst Smolka war sich dieser Auszeichnung bewußt. Man munkelte – Genaues weiß ja keiner aus Stalins Umgebung –, daß Radowskij einer der seltenen Menschen war, denen Stalin vertraute. Das Mißtrauen Stalins war bekannt, seine Angst vor Verrätern ließ ihn zum ›Einsamen des Kreml‹ werden. Er zog sich in sich selbst zurück, selbst seine Söhne empfing er selten, und mit seiner Tochter Svetlana sprach er fast nur in den wenigen Stunden, die er auf seiner Datscha verbrachte. Nicht nur ein Panzer aus Stahl, sondern auch einer aus Eis umgab Stalin. Um so verwunderlicher war es, daß General Radowskij zu jeder Zeit willkommen war, ja, daß Stalin ihm mit einem Lächeln auf die Schulter zu klopfen pflegte. Es war klar, daß man in der Generalität Radowskij wie ein rohes Ei behandelte; seine Worte konnten immer einen Zweiklang haben: einen Sinn für den, der angesprochen war – und einen für Stalins Ohr.
    General Radowskij war guter Laune. Die Offensive lief besser, als man im Führungsstab gehofft hatte. Die Schwäche der Deutschen trat überall zu Tage. Unter dem Trommelfeuer sowjetischer Geschütze und Raketenbatterien, unter den dröhnenden Ketten der Panzerbrigaden, die alles niederwalzten, verloren die deutschen Divisionen endgültig den Nimbus ihrer Unbesiegbarkeit.
    »Was höre ich da, Igor Wladimirowitsch!« rief Radowskij und streckte Smolka beide Hände entgegen. Sie kannten sich nur flüchtig, aber Radowskij gefiel sich in überschäumender Freundlichkeit. »Ein deutsches Offizierskommando ist nach Moskau unterwegs? Wollen wohl die weiße Fahne überbringen, was? An der Zeit wäre es. Haben Sie die letzten Meldungen von der Front schon gehört?«
    Smolka blieb reserviert. Wird dir gleich vergehen, die Fröhlichkeit, dachte er. Natürlich marschieren wir nach Westen.
    Aber irgendwo hier in Moskau wird ein ganz großes Ding vorbereitet. Das kann man nicht entschärfen, indem man es lächerlich macht.
    »Darf ich vortragen?« fragte Smolka unpersönlich.
    Radowskij winkte. Er setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und musterte den Oberst. Radowskij war so etwas wie ein Eisenfresser, mittelgroß, gedrungen, stiernackig, mit angegrauten, kurz geschnittenen Haaren und stämmigen Beinen. Er hatte die Angewohnheit, seine Nasenflügel zu blähen, und daran mußte man sich erst gewöhnen. Blähte er sie, schien seine Nase um das Doppelte zu wachsen, zerfloß in die Breite und veränderte das Gesicht. Wer das nicht gesehen hat, wird nie begreifen, was man mit einer Nase alles anstellen kann.
    »Ich höre.«
    Radowskij blähte die Nasenflügel. Aber Smolka war viel zu erregt und von seinen Gedanken zerrissen, um auf

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