Sie waren zehn
mit Vorwürfen erdrücken. Aber wer ahnt denn, daß plötzlich ein Wagen um die Ecke biegt, und hinter einem geöffneten Fenster sitzt Stalin?!
Ein offenes Fenster, in das man eine Handgranate hätte werfen können …
Iwanow war an diesem Tag ein schleppender Arbeiter. Mit finsterer Miene schlich er herum, beschimpfte jeden Nagel, den er krumm schlug, nannte ihn ein warziges Ferkel und legte sich mit dem braven Vorarbeiter an, dem er zubrüllte, er sei ein kastrierter Hund … kurzum, man ging ihm aus dem Weg, vor allem, weil er ein Protektionskerlchen des schaurigen Skamejkin war. Das hatte sich herumgeflüstert, auch wenn es nicht stimmte.
Am Abend ging Iwanow mit Wanda Semjonowna und seinen zukünftigen Schwiegereltern ins Kino. Semjon Tichonowitsch Haller hatte gehört, der Film zeige einen Eisenarbeiter, der in der Revolution bis zum Bezirkskommissar aufsteigt und zwanzig zaristische Offiziere aufhängen läßt. »So etwas muß man gesehen haben!« sagte er. »Ich sage ja immer: Aus der Stahlindustrie kommen die besten Kerle!« Antonina Nikitajewna widersprach dem nicht, aus der Erfahrung heraus, daß Haller alle Gegenreden niederbrüllte. Sie freute sich auf Iwan Petrowitsch Jedemskij, der die Hauptrolle spielte und ein so schöner, kräftiger Mann war, daß man im dunklen Kino ein sanftes Seufzen hörte, wenn Jedemskijs Hose von der abwärts fahrenden Kamera gezeigt wurde.
»So still bist du«, flüsterte Wanda, als das Licht ausging, und faßte nach Iwanows Hand. »Was ärgert dich? Böse siehst du aus, ein richtiger Hofhund! Habe ich dich beleidigt?«
»Es ist nichts, Wandaschka«, sagte Iwanow und rutschte in seinem Kinostuhl tiefer. Er legte seine Hand auf Wandas Schenkel und streichelte sie. Semjon Tichonowitsch, der auf der anderen Seite saß, mußte gerade jetzt herüberschielen und knurrte bissig.
»Beherrsch dich!« sagte er dumpf. »Das hier ist ein Kulturpalast, aber kein Stall für läufige Hunde! Finger weg! Man sollte es nicht für möglich halten …«
Während auf der Leinwand der schöne Jedemskij neben einer Walzenstraße eine flammende Rede hielt, die Semjon begeistert mit leisen Bravorufen unterstrich, und Wanda ihre Hand in der seinen verkrampft hatte, beschloß Iwanow, nur noch mit einer entsicherten Handgranate in der Tasche durch den Kreml zu gehen.
An diesem Abend rief Oberst Smolka wieder General Radowskij an. Jeden Tag erkundigte er sich nach seinen drei Stalins. Sie lebten jetzt in einem abgesperrten Teil von Stalins Privatzimmerflucht und waren dem engsten Kreis vorgestellt worden. Die Verwirrung war vollkommen, und Stalin hüpfte vor Freude. Weder Chruschtschow noch Malenkow, weder Bulganin noch Kossygin, weder Kaganowitsch noch Mikojan wußten jetzt mit Sicherheit, ob Stalin, mit dem sie sprachen, auch wirklich Stalin war. Molotow bekam immer ein Augenzittern, wenn er dem großen, gefürchteten Genossen gegenüberstand, und Berijas Nervosität steigerte sich bis zu schlaflosen, zerknirschenden Nächten, in denen sich langsam ein zerstörender Verfolgungswahn verdichtete.
Natürlich hatte Berija sofort Oberst Smolka angerufen und ihm Vorwürfe gemacht. Gebremste Vorwürfe. Smolka hatte bei Stalin jetzt eine so feste Position, einen so sicheren Sitz im Privatbereich, daß es die Vorsicht gebot, Kritik an diesem verdammten Doppelgängerspiel nur gemäßigt und mit fein dosierten Beklagungen loszuschicken. Smolka hatte sein Vorgehen mit der höchsten Geheimstufe gerechtfertigt, was Berija, der als Chef des NKWD für solche Geheimnisse zuständig war, noch mehr beleidigte. Was blieb, war eine höllische Unsicherheit im engsten Freundeskreis von Stalin.
»Ich habe eine Idee«, sagte Smolka an diesem Abend.
»O nein!« rief Radowskij entsetzt. »Der Teufel hole Sie! Das wäre die einzige gute neue Idee, Igor Wladimirowitsch!«
»Vergessen Sie nicht, daß die deutschen Offiziere in Moskau sind!«
»Ein dickes Lob unserer Bürokratie, mein Freund. Gestern sind unter siebenundfünfzigtausend Gefangenen genau viertausendneunhundertsiebenundsechzig deutsche Offiziere durch Moskau marschiert! Glauben Sie, das regt mich auf, wenn eine Handvoll nicht bekannter Deutscher in Moskau herumlungert?!«
»Sie haben einen Auftrag, der durch die Siege unserer Armeen noch aktueller wird.«
»Und wir haben – dank Smolka – vier Stalins! Solange Mütterchen Rußland so fruchtbar kreißt, ist es unbesiegbar.«
»Aber die Deutschen wissen es nicht.«
»Igor Wladimirowitsch, wollen Sie
Weitere Kostenlose Bücher