Sie waren zehn
Abend des 26. Juli 1944 kam Jelena Lukinischna mit strahlenden Augen und roten Wangen nach Hause. Puschkin und Sepkin saßen vor dem Schachbrett, verbissen, als verschöben sie Armeen, und knurrten nur unverständliche Laute, als Jelena ausrief: »Große Neuigkeiten aus dem Kreml, ihr Lieben!«
»Es gibt weniger Brot«, knurrte Puschkin. »Man weiß es. Das Essen steht warm, Jelenaschka. Stör Piotr nicht; in zwei Zügen ist er matt, oder ich lasse mich in Essig einlegen!«
»Stalin wird sich den Moskauern zeigen!« Das liebe Mädchen schrak zusammen, als Sepkin die ihm am nächsten liegenden Figuren umwarf und Puschkin anstarrte, als habe dieser sie umgeblasen. Er schob die Hände zusammen und unterbrach sogar das Atmen.
»Haha!« brüllte Luka Antipowitsch wie eine Siegesfanfare. »So kann man es auch machen! Will mir den Ungeschickten vorspielen, dieses verschlagene Bürschchen! Gestehe es ein: Du bist geschlagen!«
»Wer sagt das?« fragte Sepkin mit schwerer Zunge.
»Ich!« jubelte Puschkin. »Die Partie habe ich gewonnen!«
»Was ist mit Stalin?«
»Er fährt zum Stadion. Will zu den Garde-Regimentern sprechen, die nächste Woche an die Front abrücken!« Jelena Lukinischna flatterte herum wie ein junges Vögelchen, ihre großen runden Augen glänzten wie ein sonnenbestrahlter See. Das Herz konnte sich einem blähen bei solch einem Anblick.
»Noch ein Spielchen, Piotr Mironowitsch?« fragte Puschkin, dem es endlich gelungen war, Sepkin beim Schachspiel aus der Ruhe zu bringen. Was wiegt dagegen die Nachricht, daß Stalin irgendwo herumfährt?
»Wann?« Sepkin lehnte sich zurück. Nach dem ersten Zusammenzucken schoß ihm jetzt das Blut in den Kopf. Ärger über seine unkontrollierte Reaktion. Sie war ein Warnsignal, sie bewies ihm, wie schleichend, wie unbemerkt sein Leben sich bereits verändert hatte. Wenn er am Abend von seinem Ofen und seinen Amputationsteilen heimkehrte und die Treppe hinaufstieg, dann fühlte er sich zu Hause. Er rannte Jelenas Begrüßungskuß entgegen, und wenn Puschkin längeren Stationsdienst hatte oder gar zum Spätdienst eingeteilt worden war, war sein ganzer Körper ein Fiebern nach Jelena; sie stürzten sich in die Arme, verriegelten die Tür und nutzten die wenigen Möglichkeiten des Alleinseins, um ihren eigenen Himmel herunterzureißen. Unmerklich verwandelte sich Sepkin dabei. Schon das zur Selbstverständlichkeit gewordene Gefühl, in Puschkins Wohnung ›zu Hause‹ zu sein, zu Luka Antipowitsch und Jelena Lukinischna zu gehören, als sei dies sein endgültiges Schicksal, verschob in Sepkin das Bild seiner Lebensaufgabe. Nach dem Marsch der siebenundfünfzigtausend war ein häßlicher Gedanke in ihm hochgekommen: Der Krieg, die wertvolle Zeit könne ihm davonlaufen, und es möge sinnlos werden, Stalin noch zu töten. Er erschrak selbst über den Gedanken, aber er blieb in ihm haften, wie eine Klette, die sich an seinem Herzen festsaugt.
Stalin verläßt den Kreml!
Sepkin griff nach Jelenas Hand, küßte ihre Handfläche und zog die Glückliche auf seinen Schoß. Sie warf die Arme um seinen Hals und lachte ihn mit strahlendem Gesicht an.
»Am 28. Juli. Übermorgen!« rief Jelena.
Die Stunde X – sie war gekommen.
Jelenaschka, mein Liebstes auf dieser Welt, unsere Zeit ist abgelaufen. Verzeih mir, wenn du kannst. Was ich dir verschwiegen habe, ist tausendfach aufgewogen durch unser kurzes Glück. Gott im Himmel, wie banal klingt das jetzt alles ist.
Er küßte ihre strahlenden Augen und flüchtete sich dann aus seiner erschreckenden, nie gekannten Sentimentalität. Sie leben nur noch für ein Ziel, hatte Renneberg gesagt. In Ihren Händen liegt es nun, der Weltgeschichte eine andere Richtung zu geben.
Nach dem Marsch der Gefangenen, über den Petrowskij, ausgerechnet Petrowskij, berichtete, er habe am Straßenrand gestanden und nach innen geweint und geschrien, während sich Larissa Alexandrowna wie ein ängstliches Zicklein an ihn geklammert und die fürchterlichen Deutschen wie Wesen aus einer anderen Welt angestarrt habe, erschütterte drei Tage darauf ein anderes Ereignis von noch unüberschaubarer Auswirkung die sechs Verschworenen: In seinem Hauptquartier, der ›Wolfsschanze‹, wurde Hitler in die Luft gesprengt.
An diesem Abend waren sie wieder bei Milda Ifanowna zusammengekommen. Hatte man von ihnen Entsetzen erwartet, tiefste Betroffenheit, Empörung über diesen verräterischen Akt, vielleicht auch Ratlosigkeit – die an diesem Tag in Deutschland
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