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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gesagt. »Du spuckst sie nicht an! Es ist eines Sowjetbürgers unwürdig, sich wegen deutscher Soldaten so zu erregen!«
    Das ließ Puschkin gelten, versprach, sich gemäßigt zu verhalten, und wich nun aus, indem er sein Gebiß mißhandelte.
    Ungefähr in der Mitte des Gefangenenmarsches, als wieder eine Abteilung von Kosaken den Block unterbrach und eine neue Kolonne mit ihrer Offiziersreihe aufrückte, verließ der kleine Plejin seinen Posten, arbeitete sich durch die Menschenmenge und verschwand im Belorussischen Bahnhof. Er rannte auf die leere Toilette, schloß sich in ein Kabinett ein, setzte sich auf den schmuddeligen Topf und weinte. Er weinte haltlos wie ein verprügeltes Kind, drückte das Gesicht gegen die Wand, hieb mit den flachen Händen dagegen und heulte seinen Schmerz hinaus, die ganze Tragik seines zwanzigjährigen Lebens, die erdrückende Sinnlosigkeit seiner Gegenwart. Dann sank er in sich zusammen und preßte beide Hände um seinen Kopf.
    Der Marschtritt der siebenundfünfzigtausend dröhnte auch in den Belorussischen Bahnhof.
    17. Juli 1944
    Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:
    Im Südabschnitt der Ostfront nahm die Abwehrschlacht östlich des oberen Bug an Heftigkeit zu. In schweren wechselvollen Kämpfen wurden die aus dem Raum von Tarnopol und Luzk angreifenden sowjetischen Panzerkräfte aufgefangen. In den beiden letzten Tagen wurden hier 125 feindliche Panzer vernichtet. Zwischen Pripjet und Düna hielten die harten Kämpfe auf breiter Front an. Am Njemen vereitelten unsere Divisionen mehrere Durchbruchversuche der Bolschewisten. Bei Grodno setzten sich unsere Truppen nach planmäßiger Räumung der Stadt auf das Westufer des Njemen ab. Im Seengebiet südlich der Düna brachen wiederholte Angriffe des Feindes verlustreich zusammen. Zwischen Düna und Peipussee scheiterten auch gestern zahlreiche Angriffe der Sowjets. Nur im Einbruchsraum südlich Opotschka konnte der Feind nach wechselvollen Kämpfen Boden gewinnen …
    Am 18. Juli sah Iwanow zum erstenmal Stalin aus der Nähe. Einen Handwagen voller Holzkeile schob Fjedor Pantelijewitsch über die Dreifaltigkeitsbrücke zum Dreifaltigkeitsturm, als er Stalin in einem abgesperrten Teil des Alexandergartens spazierengehen sah. Ein heller Tag war's, als sollte Moskau von Gott zu einem bizarren Kuchen gebacken werden. Stalin hatte seine Jacke ausgezogen, wandelte unter den schattengebenden Bäumen und unterhielt sich mit einem General. Iwanow blieb auf der Brücke stehen und starrte hinunter. Kein Zweifel – es war Stalin. Ein Mensch wie er ist unverwechselbar.
    Zu weit, dachte Iwanow. Viel zu weit. Jetzt müßte man ein Gewehr mit Zielfernrohr haben. Mit einer Pistole richtet man gar nichts aus. Mit einer Handgranate noch viel weniger. Mit hämmernden Pulsen beobachtete er seine Umgebung. Es gab keine Möglichkeit, von der Brücke in den Garten zu kommen. Anders wäre es, wenn man zu zweit oder gar zu dritt wäre. Aber der Genosse Bauleiter, der widerliche Skamejkin, hatte zu Iwanow gesagt: »Noch zwei entlassene Soldaten? Bin ich ein Sanatorium? Die Brigaden sind voll wie eine Jahres-Latrine! Wohin denn mit ihnen? Und was können sie, he? Sich vorn an der Hose kratzen. Fedja, mein Freund, deinen Antrag muß ich abschlägig behandeln.«
    Es war nichts zu machen. Auch als Skamejkin, der hühnerbrüstige Hurenkerl, drei junge Arbeiterinnen für die Betonmischkolonne anstellte, konnte man ihm nicht Mangel an Solida rität vorwerfen. Skamejkin bewies im Gegenteil große Volksverbundenheit, indem er die drei neuen Arbeitsgenossinnen hintereinander im Ersatzteilschuppen über eine Werkbank legte und ihre Dankbarkeit entgegennahm. Dergleichen hatte Iwanow eben nicht anzubieten …
    Stalin blieb ein paarmal stehen, blickte sogar hinauf zur Brücke, aber er sah natürlich Iwanow nicht, der neben seinem Wägelchen stand und auf sein Opfer hinunterstarrte.
    Am gleichen Tag sah Iwanow Stalin zum zweitenmal.
    Jetzt war er näher. Stalin fuhr an ihm vorbei, vom Haus des Ministerrats zum Gebäude des Obersten Sowjets. Er hatte auf seiner Seite das Fenster heruntergedreht, blickte Iwanow eine Sekunde uninteressiert an. Iwanow, die Pistole in der Tasche seines Anzugs, war völlig überrascht und reagierte erst, als der Wagen an ihm vorbeigerauscht war. Sogar einen kleinen Luftzug spürte er. Er stützte sich auf ein Brett, das er gerade getragen hatte, und beschloß, von dieser zweiten Begegnung nichts zu sagen. Duskow und die anderen würden ihn

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