Sie waren zehn
Nr. 19. Eine Stelle als Sekretärin hatte sie angenommen, im Zentralbüro für Textilüberwachung. Sie kam an wunderbare Stoffe und sogar fertige Kleider, konnte Mäntel besorgen und Strümpfe, Schuhe und Unterwäsche und lebte mit einem Menschen zusammen, der das krasse Gegenteil von Wolnow oder den Männern war, die Mildas Geschmack entsprachen.
Der Genosse Iwan Iwanowitsch Wolodin – wenigstens das W und zweite O hatte er im Namen – war ein durchgeistigter Mann, sprach fünf Sprachen, darunter deutsch, und lehrte an der Universität europäische Kunstgeschichte. Er liebte Milda bis zum Exzeß, was ihm keiner verübeln konnte, duldete großzügig ihre zahlreichen Freunde, diskutierte mit Sepkin, Duskow, Plejin und Boranow und deren Frauen über alle Themen, angefangen von Boranows beruflichen Erfahrungen als Orchideenzüchter bis zu der Frage, ob die Atomkernspaltung tatsächlich wirtschaftlich, etwa zur Stromerzeugung, nutzbar gemacht werden könne; er bewunderte die tierhafte Ljudmila Dragomirowna Plejina , die unirdische Schönheit von Anna Iwanowna Duskowa , die strahlende Jugend von Jelena Lukinischna Sepkina , die Keckheit der stupsnasigen Larissa Alexandrowna Petrowskaja und die mitreißende Fröhlichkeit von Lyra Pawlowna Boranowa . Und grübelte immer wieder der Frage nach, warum Milda Ifanowna, auch ein Juwel in diesem Kreis, ausgerechnet ihn geheiratet hatte.
Mildas Stellung war in diesem Jahr nach Kriegsende von größtem Wert. Sie versorgte die Frauen ihrer Freunde mit Kleidern und Stoffen, beschaffte Bezugscheine für Schuhe, brachte sogar drei Einkaufsausweise mit, die dazu berechtigten, in den für hohe Parteifunktionäre reservierten Sondermagazinen einzukaufen. Das Leben hatte sich normalisiert, die Nachrichten aus Deutschland waren spärlich, dort hungerte und fror man, suchte sein Heil auf dem schwarzen Markt oder fuhr mit Rucksäcken über Land, um ein bißchen Fett einzutauschen. Wenn Milda das Radio anstellte und Berlin empfing, knallte ihnen amerikanischer Jazz entgegen und erklangen Stimmen, die Ljudmila Dragomirowna als Wolfsgeheul bezeichnete.
Es war ein Tag im September 1946, als Milda mit beklommener Stimme alle zu sich rief. Als Duskow, Boranow und Petrowskij eintrafen, saß Milda Ifanowna weinend auf dem Sofa. Iwan Iwanowitsch Wolodin versuchte, sie mit Wein und dann mit einem grusinischen Kognak zu trösten, aber sie schüttelte den Kopf, saß da wie eine zerbrochene Puppe und sagte immer nur:
»Es ist furchtbar. Fürchterlich ist es! Sepkin hat es vor einer Stunde aus der Klinik gemeldet. Man hat sie gebracht … in drei Säcken, weil man nicht warten wollte und weil es kein Aufsehen geben sollte … Sie hat noch gelebt, als man sie aus dem Sack holte, geatmet hat sie noch, ganz tief und mit offenen Augen, und dann ist sie auch gestorben. Sepkin behauptet, sie hätte ihn noch erkannt …«
»Wer? Um Gottes willen, wer?« rief Duskow.
»Ljudmila Dragomirowna.«
Ein Hauch von Lähmung überzog alle. Sie begriffen es nicht sofort. Wie war es auch zu begreifen? »Das – das kann nicht wahr sein«, sagte Boranow dumpf. Er sah Ljudmila vor sich, diese Frau, die in seinen Augen weiblicher Schönheit gleichsam neue Dimensionen erschlossen hatte. »Was ist passiert? Wer sind die beiden anderen Toten?«
»Kolka …«
»Unser Kleiner?« stammelte Petrowskij. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Was war das für ein Unfall?«
Milda Ifanowna schluckte krampfhaft. Wolodin wurde sein Glas Kognak doch noch los. Sie nahm einen Schluck und wischte sich mit beiden Händen die Tränen vom Gesicht.
»Sie hat ihn erschossen – mit vier Schüssen. Und die andere mit zwei. Den letzten Schuß gab sie sich dann selbst ins Herz …«
»Die – die andere?« fragte Boranow tonlos. »Welche andere?«
»Eine Kellnerin. Ljudmila Dragomirowna überraschte sie in einer Holzhütte an der Moskwa. Sie muß ihn schon länger beobachtet haben und war ihm nachgeschlichen. Sofort hat sie geschossen …«
»Unglaublich!« Duskow griff nach der Weinflasche und setzte sie der Einfachheit halber an den Mund. Seine Kehle zuckte, als er trank. »Der Kleine muß verrückt geworden sein!« sagte er dann. »Ljudmila zu betrügen! Wo gibt es eine zweite Ljudmila?«
»Sie war neun Jahre älter als Kolka«, sagte Milda leise. »Die Kellnerin war ein Jahr jünger. Es ist furchtbar … unbegreiflich … Aber ich kann Ljudmila verstehen …«
Ein stilles Begräbnis wurde es, nur ein paar Kameraden der Miliz
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