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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Stalin gegenüber.
    Wieder war es im Alexandergarten, in der Nähe des Arsenal-Mittelturms. Nur karrte Iwanow dieses Mal nicht Holzkeile über die Dreifaltigkeitsbrücke, sondern zimmerte ein Gerüst, um ein Stück Wand am Arsenalgebäude auszubessern. Es war um die Mittagszeit, Iwanow war allein mit einem Arbeiter, der Beljajew hieß und an der Mauer im Schatten hockte, eine Essiggurke kaute und gerade über ein Mädchen berichtete, das eine Handbreit über dem Schamhügel einen großen Leberfleck besaß. Beljajew wollte von dem gebildeten Genossen Iwanow wissen, ob man so etwas wegmachen könne.
    Da stand Stalin plötzlich vor ihnen. Gemütlich, eine Pfeife schmauchend, in einem hellen, weiten Sommerrock, fern aller Düsternis, ein Väterchen, so wie man ihn auf den großen Plakaten sieht.
    Der gute Beljajew, ein wenig arm im Hirn, bekam Stielaugen, schnellte hoch, preßte sich an die Mauer, stand stramm und wartete mit hämmerndem Herzen darauf, daß er vor Schreck starb.
    Aber auch Iwanow schnellte vor. Er dachte nicht mehr, er handelte aus dem Reflex heraus, aus der hundertmal geübten Reaktion … ein Stück Materie war es, das auf einen Impuls etwas ganz Bestimmtes ausführen mußte.
    Stalin starrte ihn verblüfft an, aber zum Ausweichen kam er nicht mehr. Während Iwanow und Stalin zusammenstießen, zog Fjedor Pantelijewitsch in seiner Hosentasche die Zündschnur ab. Die Reißleine für die Handgranate ohne Verzögerung …
    Für den Bruchteil einer Sekunde waren sie sich so nah, als würden sie miteinander verschmelzen, Stalins ins Entsetzen umspringender Blick bohrte sich in Iwanows ausdruckslose, schon jenseitige Augen … Dann zerriß die Explosion diese sonnendurchglühte Mittagsruhe. Beljajew stürzte zu Boden und bekam keine Luft mehr, aber er sah noch, wie die beiden Leiber vor ihm wie rotes Glas zerplatzten und sich miteinander vermengten.
    »Absolute Informationssperre!« sagte eine halbe Stunde später Oberst Smolka. Vor ihm trug man in zwei Zinksärgen die Überreste von Stalin und Iwanow weg. Der elegante Radowskij stand etwas abseits und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Der Anblick hatte Übelkeit in ihm hochgetrieben … Zwei zerfetzte Körper, aber zwei unversehrte Köpfe. Ein junger Mensch mit goldblonden Löckchen und Stalins kantiger, eisengrauer Schädel.
    »Glauben Sie jetzt endlich an meine deutschen Offiziere, Genosse General?« fragte Smolka.
    »Verlangen Sie, daß ich auf der Stelle ein Halleluja anstimme?« Radowskij blickte mit Grausen den beiden Särgen nach. »Wer war es?«
    »Nikolai Iljitsch Tabun …«
    »Stalin wird sich ab sofort aus der Öffentlichkeit zurückziehen!« sagte Radowskij bedrückt. »Wissen Sie, was das bedeutet, Igor Wladimirowitsch? Noch mehr Haß gegen alle, noch mehr Intrigen, noch mehr Schreie nach Rache! Sie haben es gut … Sie sitzen weit genug weg von ihm auf einem sicheren Stuhl. Sicher, weil er anonym ist. Wir, in seiner Nähe, werden lernen müssen, was der Begriff Vergänglichkeit bedeutet.« Radowskij winkte ab. »Smolka, seien Sie ein lieber Freund, vergessen Sie die letzten Sätze. Also kein Ton von diesem Überfall?«
    »Keinen Hauch, Genosse General.«
    »Und der Augenzeuge, dieser Zimmermann? Er ist nur leicht verletzt.«
    »Er wird in eine gute Spezialklinik verlegt werden«, sagte Smolka leichthin. »Nach Omsk.«
    Omsk liegt jenseits des Urals. In Sibirien.
    Radowskij blickte Smolka an, sah in fröhliche Augen, schob die Unterlippe vor und wandte sich zum Gehen.
    Vier Wochen lang rannte Wanda Semjonowna in hellster Verzweiflung herum, fragte in den Krankenhäusern, alarmierte die Miliz, flehte bei den Behörden – man konnte nur mit einem Achselzucken antworten. Antonina Nikitajewna, die Mutter, vom Schmerz ihrer Tochter schier zerrissen, holte eine Kiste unterm Bett hervor, baute gegen den Widerstand von Semjon Tichonowitsch eine Ecke des Zimmers zur ›Schönen Ecke‹ aus, hing an die Wand ein Bild von Christus, schmückte es mit Blumen, entzündete eine Kerze, kniete auf den Boden und betete.
    Wenn Wanda zurückkam, fiel sie neben ihrer Mutter auf die Knie, hob die gefalteten Hände und schrie gegen die Schöne Ecke: »Gib ihn mir zurück, Heiland! Hilf mir, Christus! Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen? Wie kann ein Mensch einfach verschwinden? Christus, hilf uns …«
    Semjon Tichonowitsch hielt das nicht mehr aus. Er rannte aus der Wohnung, besoff sich viermal maßlos, krakeelte dann herum, spuckte die Schöne Ecke an,

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