Sie waren zehn
Obstessig gesäuertes Mineralwasser verteilte. Es war heiß und drückend, der Schweiß sickerte aus den Poren, als quetsche man einen Schwamm aus. Im Radio hatte man gemeldet, daß es schon neunzehn Hitzeopfer gab. Waren einfach umgefallen, als sei ihr Gehirn vertrocknet.
»Plejin, du stehst genau im Blickfeld des Spasski-Turms, entweder in der Nähe des Lenin-Mausoleums oder am Kaufhaus GUM . Du gibst die Abfahrt Stalins durch.«
»Und weiter?« fragte Plejin.
»Weiter nichts!« Duskow hob den Kopf nicht, er wollte den Kleinen nicht ansehen. Ich weiß, was du sagen willst, dachte er: Damit werde ich überleben. Hast es genau erkannt, Benjamin. Leb weiter mit deiner herrlichen Tigerin Ljudmila Dragomirowna. Aber halte jetzt bloß die Schnauze!
»Es sei denn«, fügte Duskow hinzu, »du bekommst Stalin so nahe an dich heran, daß du dein Ei werfen oder ihn mit der MP sicher – ich sage, Plejin, sicher! – erreichen kannst.« Duskow tippte auf den Plan. »Iwanow, du stehst an der Basilius-Kathedrale, gegenüber dem Nabat-Turm des Kreml. Hier muß Stalin unbedingt vorbei, wenn er zum Moskwa-Ufer will. Ist er zu schnell oder nicht nahe genug, durchlassen, Fedja, bloß durchlassen, nichts riskieren! Meldung an uns, wenn Stalin dich passiert hat.«
Duskow sah Petrowskij an. Auch Iwanow war damit gerettet, der Zweitjüngste. Wenn Frieden ist, laß deine goldenen Löckchen wieder wachsen, dachte Duskow. Wie wird sich deine Wanda Semjonowna freuen, wenn sie sich an deinen Haaren festhalten kann.
»Petrowskij«, sagte Duskow in jenem verhaltenen Lagebesprechungston, der verbindlich klang und keinen Widerspruch mehr annahm. »Wie ist es mit dem Motorrad?«
»Ich bekomme es geliehen. Der Genosse Kurkurin vom Ersatzteillager hat es mir versprochen. Eine deutsche Zündapp. Verrückt, was? Läuft hundertprozentig sicher, wie ein tröpfelnder Prostatiker.«
Keinem war zum Lachen zumute. Petrowskij hob die Schultern. »War schlecht, was? Bitte um Verzeihung …«
»Du folgst Stalins Kolonne mit dem Motorrad und bleibst mit uns in ständigem Funkkontakt«, sprach Duskow weiter. »Wenn Stalin um den Beklemenski-Turm des Kreml biegt und zur Uferstraße kommt, zwischen Kremlewski-Kai und Moskoworezk-Kai, ist die Straße breit genug, daß du ihn mit dem Motorrad überholen kannst. Aber das mußt du nach Lage der Dinge selbst entscheiden. Du mußt sicher sein, daß du in das Begleitkommando einstoßen kannst, die Verwirrung ausnutzt und sofort mit beiden Händen wirfst. Ist das nicht möglich oder unsicher, dann Stalin weiterfahren lassen und Meldung geben.«
Petrowskij nickte. Larissa Alexandrowna, mein Schatz, dachte er, aber nach außen war er völlig unberührt. Mein kleines blondes Mädchen mit der Stupsnase und den fröhlichen Sommersprossen – verfluch das Leben nicht. Es kommt nichts dabei heraus …
»Sepkin, Boranow und ich werden eine Schlageinheit bilden!« sagte Duskow. Wirklich, er sagte Schlageinheit, ein Wort, das Boranow nicht vergessen würde. Das war ein so deutsches Wort, so durch und durch preußisch, so grausam-herrlich idiotisch, daß es jetzt, in russischer Sprache gesprochen, nicht lächerlich, sondern erschreckend wirkte.
»Wir werden Stalin in ein konzentriertes Feuer von drei Seiten nehmen, wenn er, von dem Kropotkin-Kai kommend, über die Krim-Brücke fährt. Hier an der Ecke, wo er abbiegen muß und sein Wagen deshalb die Geschwindigkeit sehr vermindert, ist die beste Stelle, wo man ihn von drei Seiten erreichen kann.« Duskow blickte hoch. »Noch Fragen, Genossen?«
»Keine«, antwortete Sepkin düster.
»Positionseinnahme 10 Uhr.« Duskow lächelte etwas gequält. »Viel Glück, Jungs. Wir – wir treffen uns hinterher bei Milda Ifanowna wieder …«
Das war ein saurer Witz, man hatte ihn Duskow gar nicht zugetraut. Sie grinsten mit Bitterkeit in den Mundwinkeln, stießen die Gläser voll Mineralwasser mit Obstessig aneinander und umarmten sich dann. An der Tür gab Milda jedem einen Kuß – nicht einen schwesterlichen, sondern einen Kuß, der auf den Lippen nachbrannte, der ihnen ins Blut ging und durch ihre Körper spülte. Wenn nichts die Aussichtslosigkeit ihrer Wiederkehr andeutete, dieser Kuß bewies es ihnen. Es war ein Abschied für immer.
Zwei Minuten nach 10 Uhr vormittags, am 28. Juli 1944, einem Sonnentag, dem schon jetzt der heiße Asphalt seinen Dunst entgegenschickte, meldeten sich Plejin, Iwanow und Petrowskij von ihren Posten. Duskow, Boranow und Sepkin hatten ihre
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