Sie waren zehn
Herren, winkte schon an der Tür, man solle sitzen bleiben und keine Rangunterschiede aufkommen lassen. Alles Kameraden, sagte seine freundliche Handbewegung. Ob Dallburg Fähnrichslitzen oder Labitz Majorsschulterstücke – wir sind eine Familie.
Er überblickte den Tisch, setzte sich neben Solbreit – was mit einigem Entsetzen wahrgenommen wurde, denn Solbreits Schnauze kannte keine Grenzen – und lächelte nach allen Seiten.
»Das war das letztemal, daß Sie mit Messern und Gabeln gespeist haben«, sagte Hansekamm. »Schon zu Mittag bekommen Sie nur einen Löffel. Wenn nötig, ein Messer. Das Brot nehmen Sie bitte in die Hand und beißen herzhaft hinein. Die vier Finger der Hand können Sie ruhig auf die Wurst drücken und sich die Finger hinterher ablecken. Das ist ein Genuß, sage ich Ihnen!«
Die zehn starrten Oberstleutnant Hansekamm entgeistert an. Labitz warf einen warnenden Blick zu Solbreit. Junge, halt den Mund! Frage jetzt bloß nicht: Wer hat hier Wodka getrunken – wir oder Sie? Wir werden wohl noch mehr hören.
»Also doch!« sagte Detlev Adler. Hansekamm hob die Augenbrauen. »Kosakenausbildung bei von Pannwitz … Ich verstehe bloß nicht, warum man daraus plötzlich ein solches Geheimnis macht? Das ist doch längst eine speckige Mütze.«
»Ihre Mutmaßungen haben Salto geschlagen.« Oberstleutnant Hansekamm lachte meckernd, was ihn noch sympathischer machte. Er war ein großer, rundlicher Mensch, dem man ansah, daß er gutes Essen liebte, einen mittelschweren Bordeaux und seine Frau, die in einem Bauernhaus in der Nähe der Reitschule mit ihm eine Dreizimmerwohnung ausfüllte. Eine Dienstwohnung. Zu Hause war er in Soest. »Fruchtbare Gegend«, sagte er immer. »Gemüsefelder! Soester Börde! Als Kind konnte ich Blumenkohl und Salat nicht mehr riechen.«
»Was Sie auch gedacht haben mögen, meine Herren: Es ist falsch!« Hansekamm nahm eine der Flach-Zigaretten. Die sowjetischen Mundgranaten waren nicht sein Fall, er war nicht der Typ für Machorka und Kartoffelschnaps. Solbreit, sein Nachbar, gab ihm Feuer. »Ich kann Ihnen noch nichts sagen, wir müssen warten, bis Oberst von Renneberg aus dem Führerhauptquartier zurückgekommen ist. Ohne den Segen des Führers betrachten Sie sich als bevorzugte Gäste des OKW.«
»Und mit Führersegen?« Das war Solbreit.
»Wird es ernst.«
»Natürlich!« Das war Kuehenberg. »Undenkbar, daß man uns von den Fronten abzieht, um uns andere Eßmanieren beizubringen, wie Sie eben angedeutet haben, Herr Oberstleutnant.«
»Wenn's nur das wäre …« Hansekamm winkte ab und rauchte versonnen seine ›Orient‹. – »Von Renneberg müßte längst zurück sein. Es scheint beim Führer doch nicht alles so glatt zu gehen, wie wir gehofft hatten.«
»Es ist eben schwer, dem Führer zu erklären, daß seine Offiziere vier Finger auf die Wurst legen sollen.«
Solbreit! Labitz blickte ihn strafend an. Solbreit zuckte, um Verzeihung bittend, mit den Schultern und zog an seiner giftwolkigen Papyrossa. Aber Hansekamm war weit davon entfernt, sich durch Schnoddrigkeit aus der Reserve locken zu lassen. Er lachte wieder herzhaft, blickte dann auf seine Armbanduhr. »Darf ich die Herren bitten, mit mir in den Schulungsraum zu kommen?«
Die zehn erhoben sich wie auf ein Kommando. Schulungsraum! Das Wort verwirrte. Was sollte geschult, was gelehrt werden? Verfluchte Scheiße – vielleicht doch Reiten? Einem baltischen Landmann will man Reiten beibringen? Mit Führerbefehl? Ist denn die Welt wirklich total verrückt geworden? Der Schulungsraum, einem kleinen Klassenzimmer nicht unähnlich, lag unmittelbar neben dem ›Speisezimmer‹. Zehn Stühle standen in Zweierreihen, an der Wand hing eine riesige Landkarte. Davor stand ein schmaler Tisch und noch ein Stuhl.
Die zehn blickten auf die Karte. Wortlos, mit Gedanken, die gleichsam durch ihre Hirnwindung purzelten. Oberstleutnant Hansekamm ging um die zehn herum und lehnte sich an den schmalen Tisch.
»Sie erkennen es richtig, meine Herren! Das ist Moskau und Umgebung. Bitte sich zu setzen, ganz zwanglos. Über alles, was Sie jetzt hören, gibt es keine Notizen und werden auch keine Notizen gemacht. Wir vertrauen auf Ihre überdurchschnittliche Intelligenz.«
»Danke!« Solbreit natürlich. Er schlug das linke Bein über das rechte. »Für meinen Mathelehrer war ich eine taube Nuß!«
Hansekamm lächelte väterlich. »Erst im Leben entwickelt sich der Mensch, nicht in der Zeugniskonferenz. Die meisten Genies
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