Sie waren zehn
geräumt. Jeder der Ankommenden war von einem Oberstleutnant Hansekamm begrüßt worden, als sei man schon seit Jahren befreundet. Hände wurden geschüttelt, es wurde gefragt, ob man eine gute Reise gehabt habe, ein Witz lockerte die dennoch spannungsgeladene Atmosphäre. Aber als jeder der nach Eberswalde Befohlenen die natürliche Frage stellte: »Was ist eigentlich los? Was sollen wir in einer Reitschule?«, beschied Oberstleutnant Hansekamm diplomatisch: »Meine Herren, ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen. Herr Oberst von Renneberg wird Ihnen einen Vortrag halten, sobald er vom Führerhauptquartier zurückgekommen ist.«
Führerhauptquartier? Im Zusammenhang mit ihnen?
Die Herren machten sich zunächst miteinander bekannt. Leutnant Semper, der als Trostpreis für den entgangenen Schweinebraten zwei Flaschen Wodka aus Kowel mitgebracht hatte, stiftete eine Flasche, als von Labitz die Geburt von William Heiko bekanntgab. Man hatte sich im Zimmer von Asgard Kuehenberg versammelt, der den größten Raum bekommen hatte, mit einem wundervollen Blick über das Reitgelände ins märkische Land hinein.
In diese improvisierte Feier platzte Dallburg. Er kam von Oberstleutnant Hansekamm, hatte Händedruck und Empfangswitz hinter sich und wußte nun auch, daß sich das Führerhauptquartier mit ihm befaßte.
Dallburg wurde von den anderen begrüßt, als sei er ihnen als Maskottchen zugewiesen worden. Er nahm es mit gelassener Ergebenheit hin, der ›Benjamin‹. Es war sein Schicksal, solange er so jung aussah, als habe er die Schulhose mit dem Uniformrock vertauscht, nur um einmal Soldat zu spielen. Er beglückwünschte Labitz zu dem Stammhalter, trank sein Glas Wodka, hustete – es war sein erster Wodka – und sagte dann: »Ich habe von Herrn Hansekamm gehört, ich sei der letzte. Nach mir kommt keiner mehr. Wir sind jetzt komplett!«
Freiherr von Baldenow blickte sich um. »Wir sind also zehn!« sagte er nachdenklich. »Zehn Offiziere …« Den kleinen Dallburg rechnete er einfach dazu. Fähnrich ist ja die Vorstufe zum Leutnant.
»Auf denen das Auge des Führers ruht!« rief Solbreit. Er blieb auch in Eberswalde seiner kodderigen Schnauze treu. »Womit haben wir das verdient?! Warum bestraft man uns nur so?« Keiner lachte. Selbst ein trübes Lächeln wollte nicht aufkommen. Asgard Kuehenberg beugte sich vor, schenkte sich noch einen Wodka ein und blickte in die wasserklare Flüssigkeit. »Etwas fällt auf, meine Herren: Wir alle kommen aus dem äußersten Osten Deutschlands. Ostpreußen. Baltikum sogar …«
Sie fragten einander, wo sie zu Hause waren. Und bald fanden sie etwas heraus, was sie noch stutziger machte: Sie alle konnten Russisch. Und zwar perfekt. Schon daß sie alle aus dem Osten kamen, konnte kein Zufall sein. Aber daß einige von ihnen russische Mütter hatten, daß andere unter den verschiedensten Umständen mit Russen aufgewachsen waren, einige waren sogar in russische Schulen gegangen, als die baltischen Staaten von der Sowjetunion besetzt gewesen waren – das alles mußte sie erst recht nachdenklich stimmen. Und hatte nicht einer sogar gesagt, er sei waschechter Russe – Sohn russischer Emigranten?
»Das kann doch Zufall sein!« rief Poltmann, seltsam erregt. Seine weißblonden, schönen Locken umringelten seinen Kopf wie hundert kleine, gebleichte Schlangen. »Aus allen Ecken im Osten kommen wir, vom OKW ausgewählt – das wissen wir jetzt! Aber was soll das?«
»Vielleicht sollen wir einen Donkosakenchor bilden?« Solbreits verdammtes Mundwerk. Er hatte den meisten Wodka getrunken, jetzt sprang er auf seinen Stuhl. Die anderen starrten zu ihm hinauf. »Meine Herren Kameraden, wir singen jetzt – als Probe unseres Könnens – das schöne Lied vom dunklen Loch. Drei – vier …«
Er stemmte die Arme in die Seite und grölte mit durchaus nicht unangenehmer Stimme:
»Und darum klingelingeling klabuster tärätärätätä,
am Arsch, da ist es duster, tärätärätätä ,
Warum soll es nicht duster sein, tärätärätätä ?
Scheint weder Sonne noch Mond hinein, tärätätätätä !
Und wir tragen unsere Leiden mit Geduld,
an der ganzen Scheiße sind wir selber schuld! Tärätärätätä ! Furz!«
»Vollendet!« sagte Berno von Ranowski.
Solbreit kletterte von seinem Stuhl und setzte sich wieder. Sein Feuerwerk war abgebrannt. Jeder der zehn wußte, daß es ein Ausbruch tiefer Unsicherheit gewesen war. Wem ging es nicht so? Das Unheimliche ihrer Isolierung und ihrer
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