Sie waren zehn
Rundstedt gegangen war, hatte Hitler getobt und sich erst beruhigt, als er seinen Tee getrunken hatte. Aber erstaunlicherweise schwieg Hitler. Er betrachtete Renneberg wie einen seltsamen Kunstgegenstand.
»Wer steckt dahinter?« fragte Hitler plötzlich. »Natürlich Canaris?«
»Der Plan ist eine Gemeinschaftsarbeit von Experten, mein Führer. Mit Ihrer Erlaubnis kann Wildgänse geflogen werden.«
»Dieser Plan ist Blödsinn!« sagte Hitler hart. Mit einer Handbewegung wischte er den Plan von Moskau zur Seite. Dann straffte er sich und schob eine Hand in seine Uniformtasche. Der große Monolog begann. Widerspruchslos hörten Keitel, Jodl und Renneberg zu. Am Ende seiner Rede aber sagte Hitler, zu aller Überraschung: »Gut! Ich gebe meine Einwilligung. Aber ich befehle, daß das Unternehmen Wildgänse zur geheimsten Reichssache erklärt wird. Ob Erfolg oder Nichterfolg: Wir alle wissen davon nichts! Herr Oberst, Sie garantieren, daß keine Unterlagen vorliegen?«
»Keine, mein Führer. Die Personalakten der zehn ausgesuchten Offiziere sind beim OKW und werden am Tage des Einsatzes vernichtet. Es wird diese zehn Männer nicht mehr geben.« – »Bei einem Mißerfolg werden Vermißtenmeldungen herausgegeben.«
»Und bei Gelingen?«
Oberst von Renneberg wagte Ungeheures. »Das Maß der Belohnung überlasse ich meinem Führer«, sagte er. »Wenn diese zehn Offiziere das politische Weltbild verändert hätten.«
»Verrückt!« Hitler winkte ab. »Total verrückt! Ihr Einsatzstab, Oberst, bekommt alle Vollmachten. Wenn es gelingt« – Hitler blickte Renneberg mit schräg geneigtem Kopf an. Unendlich lange schien dieser forschende Blick zu dauern. Unter Rennebergs Kopfhaaren begann die Haut zu zucken. »Wenn? … Auch dann müssen diese zehn Herren anonym bleiben! Aber der Dank ihres deutschen Vaterlandes und der Weltgeschichte wird ihnen sicher sein.«
Da haben wir es, dachte Renneberg. Der Propagandaredner Hitler. Der Mann der tönenden, vom Volk wie Honig und Milch aufgesaugten Phrasen. Der Wort-Dämon, vor dem es einfach kein Entrinnen gibt. Nur wer Hitler erlebt hat, kann das beurteilen. Spätere Geschichtsschreiber, spätere Generationen werden es schwer haben, ihn und uns zu begreifen. Er ist eine einmalige Erscheinung auf der Bühne unserer Welt – einmalig in jedem Sinne, von jedem Winkel aus betrachtet, vom fürchterlichsten bis zum erstaunlichsten.
Renneberg atmete tief aus. Hitler sah es genau, aber sein Gesicht blieb maskenhaft. »Wir dürfen uns, mein Führer, wenn ich Sie verlassen habe, als frei in unseren Handlungen betrachten?«
»Ja.«
»Ich danke Ihnen, mein Führer.«
Hacken zusammen, Gruß, noch ein letzter Blick in die etwas zusammengekniffenen Augen. Hitler nickte. Jodl zeigte keinerlei Regung. Keitel ging bereits zur Tür. Renneberg machte eine Kehrtwendung und marschierte aus der Lagebaracke. Er hörte noch, wie ein Stuhl über den Boden scharrte.
Hitler setzte sich wieder und spielte mit seiner Brille. Als die Tür zuklappte, hob er den Kopf. »Was halten Sie davon, Jodl?«
»Man sollte es vergessen, mein Führer, und sich überraschen lassen.«
»Sehr gut, Jodl!« Er setzte die Brille auf. »Dieser Rundstedt! Mein Atlantikwall ist uneinnehmbar!«
Vor der Führerbaracke verabschiedete Keitel ziemlich steif den Obersten von Renneberg. Es war nicht alles so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Führer hatte grünes Licht gegeben – das war ein Erfolg –, aber unsicher war, wie sich Hitler in den nächsten Stunden verhalten würde. Keitel erwartete Vorwürfe: Wie konnten Sie mir einen solchen Mann zum Vortrag bringen?! Keitel, sehen Sie denn nicht, daß das alles Phantasten sind? Ich habe immer gesagt: Was von der Abwehr kommt, von diesem Canaris, sind Spinnereien! Sie ha ben mir den Vortrag Wildgänse ganz anders geschildert. Sie haben mir meine Zeit gestohlen!
Hitler war nicht sehr behutsam im Umgang mit seinen Generälen. Er liebte das Militär, weil das Militär einmal seine eigene Heimat gewesen war: der einzige Abschnitt seines jüngeren Lebens, in dem er nicht gehungert hatte, wo seine Leistungen anerkannt wurden. Aber den Generälen mißtraute er noch immer.
»Ich bin enttäuscht, Renneberg«, sagte Keitel draußen unter den hohen Kiefern. »Ihr Vortrag war lahm! Sie hätten den Führer mit Wildgänse begeistern müssen.«
»Ich habe die Erlaubnis – mehr wollte ich nicht, Herr Feldmarschall.« Renneberg grüßte stramm. »Darf ich mich
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