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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Aktentasche mit einem Stahlkettchen um das Handgelenk. Eine altgewohnte Sicherheitsmaßnahme, sogar im Führerhauptquartier. Wer die Mappe haben wollte, mußte ihm schon den Arm ausreißen. Oder ihn töten.
    Zum erstenmal betrat Oberst von Renneberg den ›Lagebunker‹. Er hieß im Jargon Bunker, obwohl er nur eine Baracke war, im innersten Sicherheitsbezirk, umgeben von hohen Kiefern, Birken und in den Baumkronen hängenden Tarnnetzen. Aus der Luft war die ›Wolfsschanze‹ so gut wie unsichtbar.
    In der Tür empfing Keitel persönlich den heranmarschierenden Renneberg. Keitel schöpfte Luft. Die Unterredung mit von Rundstedt war ganz nach Hitlers Art verlaufen. Dem Vortrag des Feldmarschalls über die Lage im Westen folgte ein Monolog des Führers, der darin gipfelte, daß eine Invasion der Alliierten reiner Wahnsinn sei. »Wir haben neunundfünfzig Divisionen in Frankreich stehen!« hatte Hitler gebrüllt. »Und da werden Sie nachdenklich? Was wollen Sie noch mehr?! Mit neunundfünfzig Divisionen jage ich jeden ins Meer zurück, der es wagt, die Küste zu betreten! Dünkirchen ist bei denen noch nicht vergessen! Wenn sie kommen, wird es ein hundertfaches Dünkirchen für sie werden! Das erwarte ich von Ihnen!«
    »Sie haben ganze fünfzehn Minuten!« sagte Keitel zu Renneberg.
    Über Keitel war man sich in Offizierskreisen nicht einig. Er war ein NS-Offizier, ohne Zweifel ein Karrieremacher um jeden Preis, Hitler devot ergeben, Klagemauer des Führers, gegen die er alle Wutausbrüche austoben konnte; still, wortlos, vielleicht ein guter Psychiater, der weiß, daß man Irre am besten beherrscht, wenn man sie ausschreien läßt. Keitel, das war Hitlers Geschöpf – so sahen es die meisten Offiziere. Aber andererseits war Keitel auch aufgeschlossen genug, Pläne wie diesen, den Renneberg in seiner Aktentasche trug, gutzuheißen und sich für ihn zu verwenden. Nicht allein, weil der Plan aus seinem Hause – dem OKW – stammte, sondern weil er klar erkannte, daß in einer verzweifelten Lage jede Chance wahrzunehmen sei.
    »Wie ist die Stimmung?« fragte von Renneberg. Das klang seltsam vertraut zwischen einem Oberst und einem Feldmarschall. Keitels rundes Gesicht mit dem grauen Schnurrbart verzog sich leicht. Als Keitel noch Oberst war, war der junge Renneberg als frisch gebackener Leutnant in seinen Stab gekommen. Über Jahre hinweg hatte Keitel da väterliches Wohlwollen entwickelt, zumal er nie enttäuscht wurde.
    »Sehr schlecht, Renneberg. Der Führer ist vom Vortrag des Feldmarschalls von Rundstedt etwas ermüdet.«
    »Sie haben dem Führer den Plan erläutert?«
    »Das ist Ihre Sache! Ich habe ihm nur den Grundgedanken vorgetragen.«
    »Und die erste Reaktion?«
    »Das ist potentieller Wahnsinn!« Keitel nickte kurz. »Ein Hinweis, Renneberg! Wenn der Führer zu sprechen beginnt, unterbrechen Sie ihn nicht.«
    »Natürlich nicht.« Renneberg schloß kurz die Augen. Die gefürchteten Hitler-Monologe. Heute würde er einen erleben, zum ersten- und zum letztenmal …
    Keitel ging voraus. Dann war alles so, wie es sich Renneberg vorgestellt hatte und wie er es von Fotos her kannte: In der Mitte der lange Kartentisch, getünchte Wände, ein paar Stühle … Spartanischer ging es nicht.
    Hitler saß hinter dem Kartentisch und wirkte sitzend kleiner, als es Renneberg erwartet hatte. Er war überhaupt erstaunt, daß Hitler saß. Eine Tasse mit Kräutertee stand neben ihm. Hitler trug eine Brille, was Renneberg geradezu verblüffte, aber er nahm sie sofort ab, als der Oberst die Hacken zusammenknallte und sich meldete: »Oberst Renneberg, Führungsstab des OKW, Berlin, meldet sich dem Führer …«
    Jodl lehnte neben dem Telefontisch, Keitel stand hinter Renneberg, eine Ordonnanz wartete wie ein blutleeres Gespenst im Hintergrund. Kein Schmundt, kein Zeitzier, der Chef des Generalstabs des Heeres, keine anderen Generäle, keine SS, kein Himmler, kein Bormann … Es war also Keitel gewesen, der den Vortrag durchgesetzt hatte.
    Für eine lange Sekunde sahen sich Hitler und Renneberg an. Wie beginne ich, dachte Renneberg. Soll ich mich auf Keitel berufen? Oder sagt Keitel selbst das erste Wort? Erschreckend alt ist Hitler geworden. Falten im Gesicht. Seine Nase wirkt breiter als auf den Bildern. Er muß sehr müde sein. Die gefürchteten und von seinen Anhängern wie ein Wunder bestaunten und umjubelten Augen, der Blick, »der in jedes Deutschen Herz trifft und auflodert zu heller Flamme …«, wie Goebbels einmal

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