Sie waren zehn
Sie sich an die sowjetische Uniform gewöhnt. In Frankfurt/Oder unterhalten wir ein russisches Offizierslager. Sie werden als Neuzugänge ins Lager transportiert und sich dort drei Tage aufhalten. Dabei wird sich zeigen, ob Ihre Sprache kleine Fehler besitzt, die im Ernstfall tödlich sein können.« Er schlug den Schnellhefter auf und blätterte in den lose darin liegenden Papieren. »Jeder von Ihnen bekommt jetzt seine neue Vita. Namen, Geburtsangaben, erlernter Beruf, Eltern, Großeltern, Wohnorte, Kindheitserinnerungen, Liebschaften, sowjetischen Truppenteil, Namen der Kommandeure und Kameraden, wann gefangen und wo. Später, für den Einsatz vor Moskau: wo und wann entlassen aus der Roten Armee, warum entlassen, Berufspapiere, Ausweise, Entlassungsscheine, Arbeitseinsatz-Befehle. – Sie werden mit allem komplett ausgestattet.« Renneberg nahm einen Bogen aus dem Schnellhefter und hielt ihn in Augenhöhe. »Major von Labitz!«
»Hier.« Labitz trat vor. Renneberg blickte ihn ernst an.
»Sie heißen ab sofort Pawel Fedorowitsch Sassonow. – Ihre neue Vita lernen Sie bitte bis morgen mittag auswendig. Ich höre Sie ab, dann wird das Papier verbrannt. Das gilt für alle Herren.« Er reichte Labitz das Papier. Es war eng beschrieben. Die Daten und Ereignisse eines neuen Lebens. Eines bereits über dreißig Jahre währenden sowjetischen Lebens.
Labitz nahm den Bogen, wandte sich ab. Langsam ging er zum offenen Fenster und las. Über Eberswalde lag eine Sonnenglocke. Es war warm. Kein Wind. Die Bäume bewegten sich kaum. Von den Feldern zog der Heuduft herb-süß bis ins Zimmer. Renneberg nahm den nächsten Bogen aus dem Schnellhefter.
»Oberleutnant Radek! Sie heißen Piotr Mironowitsch Sepkin.«
»Jawohl«, sagte Radek leise, nahm sein neues Leben in Empfang und stellte sich in eine Ecke.
»Oberleutnant von Ranowski!«
»Hier!«
»Sie sind Iwan Petrowitsch Bunurian.«
»Ein schöner Name. Georgier?«
»Genau. Sie sehen auch so aus.« Renneberg griff zum nächsten Papier. »Leutnant Solbreit!«
»Hier!«
»Luka Iwanowitsch Petrowskij. – Einverstanden?«
»Jawohl, Herr Oberst. Lukuschka … das kann eine Frau gut flüstern …«
»Dachte ich mir.« Renneberg lächelte kurz. »Hauptmann von Baldenow!«
»Hier!«
»Leonid Germanowitsch Duskow.«
»Warum Germanowitsch?« fragte von Baldenow.
»Ihr Vater hatte das Unglück, German genannt zu werden. Lesen Sie Ihre Vita. Ihr Großväterchen verehrte die Deutschen und taufte seinen Sohn German. – Leutnant Poltmann!«
»Hier!«
»Fjedor Pantelijewitsch Iwanow. – Man wird Sie sicherlich überall Fedja nennen.«
»Die Locken sollen ab, Herr Oberst?« sagte Poltmann zerknirscht.
»Es werden genug bleiben, um Sie noch Fedja nennen zu können. – Oberleutnant Adler!«
»Hier!«
»Alexander Nikolajewitsch Kraskin.«
»Das knallt!«
»Nicht, wenn man Sascha zu Ihnen sagen wird. – Hauptmann Kuehenberg!«
»Hier!«
»Kyrill Semjonowitsch Boranow.«
»Danke!« sagte Kuehenberg.
»Leutnant Semper!«
»Hier!«
»Sergeij Andrejewitsch Tarski.«
»Nicht übel.«
»Fähnrich Dallburg.«
»Hier!« Der kleine Dallburg knallte als einziger die Hacken zusammen, obwohl er eine russische Uniform trug. »Verzeihung, Herr Oberst«, sagte er sofort und wurde rot.
»Sie heißen Nikolai Antonowitsch Plejin.« Renneberg gab ihm das Papier. »Sie haben eine schöne Vita, Nikolai Antonowitsch. Es war uns bekannt, daß Sie eine gute Singstimme besitzen, einen hellen, lyrischen Tenor. – Sie sind Künstler. Sänger in der Ausbildung, zur Front abkommandiert. Da Sie der einzige sind, der nicht verwundet ist, sind Sie wegen einer Infektion von Ihrem russischen Regiment freigestellt worden. Unklarer Befund. Sie wissen, die Russen haben eine höllische Angst vor ansteckenden Krankheiten. – Aber lesen Sie Ihren Lebenslauf!« Renneberg versuchte einen Witz, um die gedämpfte Stimmung aufzulockern: »Vielleicht hört man Sie eines Tages als Rudolf in ›La Boheme‹?! Der neue Star des Bolschoi-Theaters … Nikolai A. Plejin.«
»Ich werde mir Mühe geben, Herr Oberst«, sagte der kleine Dallburg gepreßt. »Vielleicht sitzt dann Stalin in der Loge, und ich kann ihn von der Bühne aus erschießen … Beim großen Liebesduett, am Rücken von Mimi vorbei …«
»Soviel Zeit haben wir nicht, meine Herren! Dies als neueste Information: Je schneller sich die Ereignisse an der Front überschlagen, um so weniger Zeit bleibt Ihnen. Es hat keinen Sinn, Stalin zu töten,
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