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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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dazu, bis ans Ende der Skala auszuschlagen. Sogar wenn man leicht verkatert vor der Schreibmaschine saß, tassenweise schwarzen Kaffee trank und alle paar Stunden ein oder zwei Rolaids zerkaute (und wusste, man sollte die verfluchten Zigaretten aufgeben, zumindest am Morgen, es aber doch nicht fertigbrachte), Monate von der Fertigstellung und Lichtjahre von der Veröffentlichung entfernt, spürte man das Muss , wenn man es fand. Wenn er es hatte, schämte er sich
immer ein wenig und fühlte sich als Manipulator. Aber er fühlte sich dann auch in seiner Arbeit bestätigt. Himmel, Tage vergingen und das Loch im Papier war klein, das Licht düster, die Dialoge geistlos. Man machte weiter, weil es das Einzige war, was man tun konnte. Konfuzius sagt, wenn ein Mann eine Furche Getreide anbauen will, muss er erst eine Tonne Scheiße schippen. Und dann weitete sich das Loch eines Tages plötzlich zur Größe einer Vista Vision-Breitbildleinwand, und Licht schimmerte hindurch wie Sonnenstrahlen in einem Epos von Cecil B. De Mille, und man wusste, man hatte das Muss , lebendig und ungestüm.
    Das Muss, wie in: »Ich glaube, ich bleibe noch fünfzehn, zwanzig Minuten auf, Liebling, ich muss noch wissen, wie dieses Kapitel ausgeht.« Auch wenn der Typ, der das sagt, den ganzen Tag während der Arbeit ans Vögeln gedacht hat und weiß, dass seine Frau wahrscheinlich schon schlafen wird, wenn er dann endlich ins Schlafzimmer kommt.
    Das Muss, wie in: »Ich weiß, ich sollte das Essen machen - er wird wütend, wenn es wieder Fertiggerichte gibt -, aber ich muss wissen, wie es ausgeht.«
    Ich muss wissen, ob sie überlebt.
    Ich muss wissen, ob er den Scheißkerl erwischt, der seinen Vater ermordet hat.
    Ich muss wissen, ob sie herausfindet, dass ihre beste Freundin ihren Ehemann vögelt.
    Das Muss. So widerlich wie wenn einem jemand in einer schmierigen Bar einen runterholte, so erregend wie ein Fick mit dem talentiertesten Callgirl der Welt. O Mann, es war schlimm, und o Mann, es war gut, und o Mann, letztendlich
spielte es gar keine Rolle, wie derb es war und wie grob es war, denn letztlich konnte man nicht aufhören, bis man genug hatte, wie die Jacksons auf einer ihrer Platten sangen - don’t stop till you get enough.

8
    Du warst auch Scheherazade für dich selbst.
    Das war keine Vorstellung, die er artikulieren oder gar verstehen konnte, damals nicht; er hatte zu große Schmerzen gehabt. Aber er hatte es dennoch gewusst, oder nicht?
    Nicht du. Die Jungs in der Denkfabrik. Die haben es gewusst.
    Ja. Das hörte sich zutreffend an.
    Das Geräusch des Rasenmähers wurde lauter. Annie kam für einen Moment in sein Blickfeld. Sie blickte ihn an, sah, dass er sie seinerseits anblickte, und hob die Hand. Er hob ebenfalls eine Hand - die, wo der Daumen noch dran war - als Erwiderung. Sie verschwand wieder. Ein Glück.
    Es war ihm schließlich gelungen, sie davon zu überzeugen, dass es ihn voranbringen - und nicht zurückwerfen - würde, wenn er sich wieder an die Arbeit machte. Die Deutlichkeit der Bilder, die ihn aus seiner Wolke herausgelockt hatten, spukten in ihm, und spuken war genau das richtige Wort: Bis sie niedergeschrieben waren, waren sie lediglich Schatten, die ungreifbar blieben.
    Sie hatte ihm zwar nicht geglaubt - damals nicht -, aber sie hatte ihm trotzdem erlaubt, wieder zu arbeiten. Nicht weil er sie überzeugt hatte, sondern wegen des Muss .

    Zuerst hatte er nur für schmerzlich kurze Abschnitte arbeiten können - fünfzehn Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, wenn die Geschichte es wirklich von ihm verlangte. Und selbst diese kurzen Abschnitte waren eine Qual. Wenn er seine Haltung änderte, erwachte der Beinstumpf zu loderndem Leben, so wie schwelende Glut entflammt, wenn ein Lufthauch darüberstreicht. Es tat höllisch weh, während er schrieb, aber das war nicht das Schlimmste - das Schlimmste waren die ein, zwei Stunden danach, wenn der heilende Stumpf ihn mit seinem kribbeligen Jucken quälte, als würden schläfrige Bienen darauf herumkriechen.
    Er hatte recht gehabt, nicht sie. Es ging ihm niemals wirklich gut - in solch einer Situation war das wahrscheinlich auch gar nicht möglich -, aber sein körperlicher Zustand verbesserte sich, und er gewann einen Teil seiner Kraft zurück. Er stellte fest, dass der Horizont seines Interesses geschrumpft war, aber das akzeptierte er als den Preis für sein Überleben. Es war ein echtes Wunder, dass er überhaupt überlebt hatte.
    Während er vor seiner

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