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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Schreibmaschine mit den zunehmend lückenhaften Zähnen saß und über einen Zeitraum nachdachte, der aus Arbeit und nicht aus Ereignissen bestand, nickte Paul. Ja, er nahm schon an, dass er seine eigene Scheherazade gewesen war, ebenso wie er seine eigene Traumfrau gewesen war, wenn er sich selbst angefasst und im fiebrigen Rhythmus seiner Fantasien masturbiert hatte. Er brauchte keinen Psychiater, um einzusehen, dass das Schreiben eine autoerotische Seite hatte - man bearbeitete statt des eigenen Fleisches die Schreibmaschine, aber bei beiden Akten kommt es weitgehend auf reiche
Vorstellungskraft, schnelle Hände und eine tief empfundene Hingabe an die Kunst des So-tun-als-ob an.
    Aber fand nicht letztlich auch eine Art Fick statt - und sei es nur von der trockensten Art? Denn als er wieder angefangen hatte … nun, sie unterbrach ihn nicht, während er arbeitete, aber sie holte sich sofort die jeweils fertiggestellten Seiten, sobald er aufhörte, vorgeblich, um die fehlenden Buchstaben einzusetzen, aber in Wahrheit - das wusste er inzwischen, so wie sexuell empfindsame Männer spüren, welche Verabredungen am Ende des Abends zu etwas führen werden und welche nicht -, weil sie ihren Schuss brauchte. Sie brauchte das Muss .
    Die Serials. Ja. Wie damals. Aber in den letzten paar Monaten ist sie täglich hingegangen, nicht nur an Samstagnachmittagen, und der Paul, der sie dort hinführt, ist ihr Privatschriftsteller, nicht ihr älterer Bruder.
    Seine Arbeitsperioden an der Schreibmaschine wurden allmählich länger, während die Schmerzen nachließen und seine Belastungsfähigkeit wuchs … aber letztlich war er außerstande, schnell genug zu schreiben, um ihren Bedarf zu sättigen.
    Das Muss, das sie beide am Leben hielt - und das hatte es, denn ohne es hätte sie ihn und sich schon längst umgebracht -, war es auch, das ihn seinen Daumen gekostet hatte. Es war schrecklich, aber in gewisser Weise auch komisch. Nimm ein wenig Ironie, Paul, das ist gut für dein Blut.
    Und denke daran, wie viel schlimmer es hätte kommen können.
    Es hätte zum Beispiel sein Penis sein können.
    »Und davon habe ich nur einen«, sagte er und begann in dem leeren Zimmer und vor der verhassten Royal mit
ihrem Zahnlückengrinsen schrill zu lachen. Er lachte, bis ihm Magen und Beinstumpf gleichermaßen wehtaten. Lachte, bis sein Verstand wehtat. Einmal wurde das Lachen zu einem schrecklichen trockenen Schluchzen, das selbst im Überrest seines linken Daumens Schmerzen weckte, und als das geschah, konnte er endlich aufhören. Er fragte sich dumpf, wie nahe er daran war, den Verstand zu verlieren.
    Nicht dass es wirklich eine Rolle spielte, überlegte er.

9
    Eines Tages - nicht lange vor der Daumenektomie, vielleicht weniger als eine Woche - war Annie mit zwei riesigen Schüsseln Vanilleeis hereingekommen, einer Dose Hershey’s Schokoladensirup, einer Sprühdose Reddi-wip-Schlagsahne und einem Glas, in dem Cocktailkirschen, so rot wie Herzblut, wie biologische Proben schwammen.
    »Ich habe mir gedacht, ich mache uns Eisbecher, Paul«, sagte Annie. Ihr Ton war gespielt vergnügt. Das gefiel Paul nicht. Nicht der Klang ihrer Stimme, nicht der unruhige Ausdruck in ihren Augen. Ich bin ein böses Mädchen, sagte dieser Blick. Es machte ihn argwöhnisch, beschleunigte seinen Atem. Er konnte sich nur zu leicht vorstellen, dass sie genau diesen Ausdruck hatte, wenn sie ein Bündel Kleider auf eine Treppe legte, eine tote Katze auf eine andere.
    »Oh, danke, Annie«, sagte er und sah ihr zu, wie sie den Sirup über das Eis goss und zwei Kumuluswolken aus Schlagsahne daraufsprühte. Diese Tätigkeiten führte sie mit den geübten Händen eines langjährigen Zuckerjunkies aus.

    »Nichts zu danken. Sie haben es sich verdient. Sie haben so hart gearbeitet.«
    Sie gab ihm seinen Eisbecher. Der süße Geschmack wurde nach dem dritten Bissen ekelerregend, dennoch aß er weiter. Das war klüger. Eine der Grundregeln für das Überleben hier am malerischen Western Slope lautete nämlich: Wenn Annie serviert, dann iss ungeniert. Sie schwiegen eine Weile, dann legte Annie den Löffel nieder, wischte sich mit dem Handrücken eine Mischung aus Schokoladensirup und schmelzendem Eis vom Kinn und sagte freundlich: »Erzählen Sie mir den Rest.«
    Paul legte seinen Löffel ebenfalls weg. »Bitte?«
    »Erzählen Sie mir den Rest der Geschichte. Ich kann es nicht erwarten. Ich kann es einfach nicht.«
    Hatte er nicht immer gewusst, dass das passieren würde? Ja.

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