Sieben
fröstelte. Im Kirchenschiff brannten einladende Lichter. Er trat ein.
Wem war er entkommen? Im warmen, vernünftigen Licht der Kirche stellte er sich unweigerlich diese Frage. Hatte die Fantasie eine völlig normale Situation so fehlinterpretiert, daß er von namenlosem Grauen erfüllt wurde? War er vielleicht einem übereifrigen Nachtwächter begegnet, dessen Cordhosen - wenn sie sich beim Gehen aneinander rieben -eine Art Zischen erzeugten? Er wußte, daß die Anspannungen einer Schlacht im Bewußtsein von Soldaten alle möglichen halluzinatorischen Phänomene erzeugen konnten. Arbeitete er im Moment nicht unter einem noch heimtückischeren Druck, da seine Widersacher ihm unbekannt waren und, wie Sacker angedeutet hatte, mit jedem Fußgänger auf der Straße identisch sein konnten? Vielleicht war ihnen dies die liebste Methode des Angriffs, und sie trieben ihre Opfer mit einer konstanten, unkörperlichen Bedrohung, die man eher spürte als sah, allmählich in den Wahnsinn. Wenn man einem Menschen ein Ziel zeigte, auf das er zugehen konnte, bekam er festen Grund unter die Füße. Doch wenn man ihn mit unerklärlichen nächtlichen Geräuschen, Irrlichtern und makabren Vogelscheuchen, die neben Bahngleisen hockten, angriff und den Schrecken seiner persönlichen Alpträume zum Leben erweckte, konnte einen die suggestive Unklarheit dieser Dinge durchaus in den Irrsinn treiben.
Als Doyle vor einem der Querschiffe stand, verspürte er den Impuls, eine Kerze anzuzünden, um an irgendeine höhere Macht zu appellieren, ihn zu leiten oder ihm zu helfen. GOTT IST DAS LICHT, lautete die Inschrift, UND IN IHM IST KEINERLEI DUNKELHEIT.
Er nahm einen der brennenden, dünnen Anzünder zu Hand und hatte sich fast auf frischer Tat ertappt.
Merkwürdig: Ich stehe tatsächlich im Angelpunkt der ewigen menschlichen Spitzfindigkeit zwischen Glaube und Furcht. Sind wir Geschöpfe des Lichts; Götter, die darauf warten, geboren zu werden; oder nur Schachfiguren in einem Kampf höherer Mächte, die um die Herrschaft über eine Welt ringen, die unter ihren getrennten, nie geschauten Reichen liegt?
Unfähig, sich der einen oder anderen Seite dieses Arguments zu verpflichten, löschte Doyle den Anzünder, ohne eine Kerze angesteckt zu haben.
Da die Frage, ob er zurückkehren sollte, um nachzusehen, ob Sacker wieder in seinem Büro war, nur sehr begrenzten Reiz auf ihn ausübte, schien ihm die Aussicht auf etwas zu essen und zu trinken die hinreichend bessere Alternative zu sein. Ein satter Körper beruhigte den Verstand. Anschließend stand sein Besuch bei einem Individuum an, das wie kein anderes qualifiziert war, ihn aus diesem metaphysischen Sumpf herauszubringen: HPB.
HPB
EINEN VOLLEN MAGEN und zwei Stunden später saß Doyle mitten in einer bescheidenen Transzendentalen-Versammlung in der örtlichen Grange Hall und lauschte H. P. Blavatsky, die ihren Vortrag von der Bühne hielt. Sie benutzte weder ein Manuskript noch einen Stichwortzettel. Sie sprach frei, und wenn der Kerninhalt und die Kontinuität des Vortrags sich im nachhinein auch als schwer faßbar erwies, war seine Wirkung unbestreitbar hypnotisch.
»... hat es nie einen religiösen Führer, gleich welchen Formats oder Wichtigkeit gegeben, der eine neue Religion
erfunden
hat. Neue Formen, neue Interpretationen, ja, derlei hat man uns geschenkt, aber die Wahrheiten, auf denen diese Offenbarungen basieren, sind älter als die Menschheit. Diese Propheten haben selbst eingestanden, daß sie nie Urheber waren. Das Wort, das ihnen am liebsten war, ist
Übermittler.
Keiner von ihnen - von Konfuzius über Jesus bis hin zu Mohammed - hat je gesagt: ›Ich habe diese Dinge geschaffen.‹ Sie haben ausnahmslos gesagt: ›Ich empfange diese Dinge und gebe sie weiter.‹ Und so ist es bis heute geblieben.«
Je größer ihre Erregung wurde, desto stärker flackerten ihre Saphiraugen. Die runde, winzige Gestalt der Blavatsky nahm amöbenartige Ausmaße an, als ihr stark betontes Englisch, das eben noch gebrochen und zaghaft aus ihrem Munde kam, nun in einem grammatikalisch einwandfreien Wortschwall aus ihr heraussprudelte.
»In der Welt von heute existiert eine geistliche Weisheit, gegen die unsere fragmentarische Wahrnehmung der Geschichte zwergenhaft wirkt. Ich spreche von Büchern vorzeitlicher Herkunft, die ein gigantisches Vermächtnis darstellen, den Augen des Westens jedoch verborgen sind. Allein die Buddhisten Nordtibets besitzen dreihundertfünfundzwanzig Bände fünfzigbis
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