Sieben Jahre später
mit dem Ärmel ab und kämpfte gegen die Ohnmacht an. Heftige Übelkeit überkam sie, in ihren Ohren begann es zu rauschen, und ihr Blick trübte sich.
Mit letzter Kraft klammerte sie sich an ihrer Pistole fest, doch die Welt um sie herum schwankte.
Dann wurde alles schwarz, und sie verlor das Bewusstsein.
Kapitel 48
South Brooklyn
Red Hook
Sechs Uhr morgens
Lorenzo Santos parkte seinen Wagen vor dem roten Ziegelbau, in dem Nikki wohnte. Er schaltete den Motor aus, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche, schob sie zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann schloss er die Augen und nahm einen tiefen Zug. Der herbe Geschmack des Rauchs erfüllte seine Kehle und verschaffte ihm ein Gefühl der Entspannung, das jedoch nicht von Dauer war. Nervös nahm er einen neuen Zug Nikotin und betrachtete das vergoldete Sturmfeuerzeug, das Nikki ihm geschenkt hatte. Er wog das elegante rechteckige Gehäuse, das seine Initialen trug und mit Krokoleder überzogen war, in der Hand. Sein Blick verlor sich, er ließ mehrmals den Deckel aufschnappen und lauschte dem metallischen Klicken.
Was war bloß mit ihm los?
Er hatte wieder eine schlaflose Nacht in seinem Büro verbracht und auf das Bild der Frau gestarrt, die er liebte und die er sich in den Armen eines anderen Mannes vorstellte. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts mehr von ihr gehört, und das brachte ihn fast um den Verstand. Seine Leidenschaft überwältigte und zerfraß ihn. Eine krankhafte Liebe, die ihn verrückt machte und langsam zerstörte. Er wusste, dass diese Frau Gift für ihn war, dass ihr Einfluss auf seine Karriere und sein Leben fatal sein könnte, doch er saß in der Falle und konnte nicht zurück.
Er rauchte seine Zigarette bis zum Filter, warf den Stummel aus dem Fenster, stieg aus dem Ford Crown und betrat die zu Lofts umgebaute Fabrik.
In der vorletzten Etage angelangt, sperrte er mit dem Schlüssel, den er bei seinem letzten Besuch mitgenommen hatte, die Brandschutztür auf.
In dieser Nacht war ihm eines klar geworden: Wenn er Nikki irgendwie zurückerobern wollte, musste er ihren Sohn finden. Er musste dort Erfolg haben, wo Larabee ganz offensichtlich versagte. Wenn es ihm gelänge, Jeremy zu retten, wäre Nikki ihm ewig dankbar.
Der Tag war noch nicht angebrochen. Er trat in den Salon und schaltete das Licht ein. Es war eiskalt in der Wohnung. Um sich aufzuwärmen, kochte er sich einen Kaffee, zündete sich eine neue Zigarette an und begab sich ins obere Stockwerk. Eine Viertelstunde lang durchsuchte er gründlich das Zimmer des Jungen nach irgendwelchen Indizien, ohne etwas Wichtiges zu finden – ausgenommen vielleicht das Handy, das Jeremy auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Das war ihm beim ersten Mal nicht aufgefallen, doch jetzt kam es ihm merkwürdig vor. Er wusste, welchen immensen Stellenwert Smartphones bei Jugendlichen hatten, und so wunderte es ihn, dass Nikkis Sohn es nicht mitgenommen hatte. Er nahm es und klickte sich, da es nicht passwortgeschützt war, eine gute Weile durch die verschiedenen Apps und Spiele, bis er auf etwas Interessanteres stieß: ein Programm, das man als Diktafon benutzen konnte. Neugierig konsultierte er das Archiv und entdeckte verschiedene nummerierte Dateien, die immer gleich benannt waren:
DrMarionCrane1
DrMarionCrane2
(…)
DrMarionCrane10
Santos runzelte die Stirn. Der Name war ihm nicht unbekannt. Er hörte die erste Aufnahme ab und begriff sofort, worum es ging. Bei Jeremys Prozess hatte der Richter neben der Strafe eine psychologische Behandlung angeordnet. Marion Crane war seine Therapeutin gewesen, und der Junge hatte die Sitzungen aufgenommen!
Aber zu welchem Zweck? Hatte er das heimlich getan, oder gehörte es zur Therapie?
Eigentlich auch unwichtig, dachte der Cop und zuckte die Achseln. Wie ein Voyeur hörte er sich ohne Skrupel die Aufnahmen an. Der Junge sprach über sein Familienleben.
Doctor Crane: Willst du mir etwas über deine Eltern erzählen, Jeremy?
Jeremy : Meine Mutter ist toll. Sie ist immer gut gelaunt, optimistisch und ermutigend. Selbst wenn sie Sorgen hat, zeigt sie das nie. Sie macht Witze und ist komisch. Sie nimmt alles mit Humor. Schon als meine Schwester und ich noch Kinder waren, verkleidete sie uns als Märchenfiguren und studierte kleine Theateraufführungen mit uns ein.
Doctor Crane: Sie ist also verständnisvoll? Kannst du mit ihr über deine Probleme sprechen?
Jeremy: Ja, sie ist wirklich cool. Sie ist Künstlerin, jemand, der meine
Weitere Kostenlose Bücher