Sieben Jahre später
Freiheit respektiert. Sie lässt mich ausgehen, sie vertraut mir. Sie kennt meine besten Freunde. Ich spiele ihr meine Gitarrenkompositionen vor. Sie interessiert sich für meine Leidenschaft fürs Kino …
Doctor Crane: Und gibt es momentan einen Mann in ihrem Leben?
Jeremy: Ja, einen Cop. Der ist jünger als sie. Heißt Santos. Ein richtiger Lackaffe …
Doctor Crane: Du scheinst ihn nicht sonderlich zu mögen?
Jeremy: Sehr scharfsinnig …
Doctor Crane: Warum?
Jeremy: Weil er neben meinem Vater ein Versager ist. Aber die Beziehung wird sowieso nicht andauern.
Doctor Crane: Wie kannst du dir da so sicher sein?
Jeremy: Weil sie alle halbe Jahre ’nen neuen Typen hat. Eines müssen Sie wissen, Doc, meine Mutter ist eine schöne Frau. Wirklich sehr schön. Sie übt eine Anziehungskraft aus, die Männern den Verstand raubt. Wo auch immer sie ist, es funktioniert garantiert. Ich weiß nicht, warum, aber sie macht sie völlig verrückt. Ein bisschen wie beim Wolf von Tex Avery: hängende Zunge, Augen, die aus den Höhlen zu quellen scheinen, verstehen Sie, was ich meine?
Doctor Crane: Und ist dir das unangenehm?
Jeremy: Ihr ist es unangenehm. Das behauptet sie zumindest. Ich denke, das ist nicht so eindeutig. Man muss nicht Psychiater sein, um zu verstehen, dass sie das braucht, dass es ihr Sicherheit gibt. Ich denke, das ist auch einer der Gründe, warum mein Vater sie verlassen hat …
Doctor Crane: Lass uns über deinen Vater reden.
Jeremy: Das ist ganz einfach, er ist genau das Gegenteil von meiner Mutter. Ernsthaft, steif, rational. Er liebt Ordnung und Planung. Mit ihm gibt es nicht viel zu lachen, das ist sicher …
Doctor Crane: Verstehst du dich gut mit ihm?
Jeremy: Nicht wirklich. Zum einen, weil wir uns wegen der Scheidung selten sehen. Und ich denke, er hat gehofft, dass ich ein besserer Schüler wäre. So wie Camille. Er ist sehr kultiviert und kennt sich auf allen Gebieten aus: Politik, Geschichte, Wirtschaft. Meine Schwester hat ihm übrigens den Spitznamen »Wikipedia« verpasst …
Doctor Crane : Ist es schlimm für dich, ihn zu enttäuschen?
Jeremy: Nicht allzu schlimm. Na ja, vielleicht ein bisschen …
Doctor Crane: Interessierst du dich für seine Arbeit?
Jeremy : Er hat den Ruf, einer der besten Geigenbauer der Welt zu sein. Seine Geigen klingen wie Stradivaris, und das ist schon klasse. Er verdient einen Haufen Kohle, aber ich glaube, im Grunde ist ihm das alles egal, sowohl die Geigen als auch das Geld.
Doctor Crane: Das verstehe ich nicht.
Jeremy: Ich denke, meinem Vater ist alles egal. Die Liebesbeziehung zu meiner Mutter war das Einzige, was ihn in seinem Leben je wirklich angetörnt hat. Sie hat ihm die Phantasie gebracht, die seinem Leben gefehlt hat. Seit sie sich getrennt haben, lebt er wieder in seiner Schwarz-Weiß-Welt.
Doctor Crane: Aber er hat doch jetzt eine neue Lebensgefährtin, nicht wahr?«
Jeremy: Ja, Natalia, eine Balletttänzerin. Ein Knochengestell. Er sieht sie von Zeit zu Zeit, aber sie wohnen nicht zusammen, und ich denke, das strebt er auch nicht an.
Doctor Crane: Wann hast du dich deinem Vater zum letzten Mal nahe gefühlt?
Jeremy: Weiß nicht mehr …
Doctor Crane: Streng dich bitte an.
Jeremy: Vielleicht, als ich sieben Jahre alt war. In diesem Sommer haben wir alle zusammen verschiedene Nationalparks besucht: Yosemite, Yellowstone, Grand Canyon … Wir sind durchs ganze Land gereist. Das war der letzte Urlaub vor der Scheidung.
Doctor Crane: Erinnerst du dich an eine besondere Begebenheit?
Jeremy: Ja, eines Morgens sind wir fischen gegangen, nur wir beide, und er hat mir erzählt, wie er meine Mutter kennengelernt hat. Warum er sich unsterblich in sie verliebt hat, wie er ihr nach Paris gefolgt ist und wie es ihm gelungen ist, sie zu erobern. Ich erinnere mich an den Satz: »Wenn du jemanden wirklich liebst, ist keine Festung uneinnehmbar.« Das klingt gut, aber ich bin nicht sicher, dass es stimmt.
Doctor Crane: Lass uns über die Scheidung deiner Eltern sprechen. Für dich war das sehr schwer, nicht wahr? Ich habe in deinem Schülerblatt gesehen, dass du Mühe hattest, das Lesen zu lernen, und dass du Legastheniker warst …
Jeremy: Ja, die Scheidung war der Horror für mich. Ich konnte nicht glauben, dass sie für immer getrennt waren. Ich dachte, mit der Zeit würden sie wieder aufeinander zugehen, sich wieder zusammentun. Aber das war nicht so. Im Gegenteil, mit der Zeit entfernen sich die Menschen immer mehr voneinander, und es wird
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