Sieben Jahre
es, der keine Zeit mehr hatte. Das Büro lag etwas außerhalb, und ich kam abends selten vor neun oder zehn von der Arbeit. Dann war ich so erschöpft, dass ich nicht mehr ausgehen mochte. Sonja rief mich jeden Tag an, aber es schien ihr nichts auszumachen, mich nur an den Wochenenden zu sehen.
Ende des Monats musste ich meinen Bungalow im Olympiadorf räumen. Birgit und Tanja waren einverstanden, dass ich bis auf weiteres in Sonjas Zimmer wohnte. Bevor ich Sonja meine Hilfe anbieten konnte, hatte sie ihre Sachen schon zu ihren Eltern geschafft und das Zimmer geputzt. Ich brachte nicht viel mit. Eine Tischplatte auf zwei Böcken, einen Stuhl, eine Matratze und ein paar Pappkartons mit meinen Büchern und Schallplatten. Die anderen Sachen überließ ich meinem Nachmieter. Rüdiger und Sonja halfen mir beim Umzug, danach gingen wir essen, und dann fuhr Sonja mit Rüdiger zurück an den Starnberger See. Ich hatte ihr angeboten, bei mir zu übernachten, aber sie wollte die letzten Tage in Deutschland bei ihren Eltern verbringen. Am Abend vor ihrer Abreise trafen wir uns noch einmal. Sonja war nervös und wollte bald nach Hause. Wir trennten uns, ohne uns etwas versprochen zu haben. Sei brav, sagte Sonja nur, als sie in den Wagen stieg. Du auch, sagte ich und winkte ihr nach, bis sie um die nächste Ecke bog.
Wir passten gut zusammen, das sagten alle, aber es war uns wohl beiden klar, dass in einem halben Jahr viel passieren konnte. Sonja hatte gesagt, sie könne sich nicht festlegen. Sie stehe ja noch ganz am Anfang. Vielleicht bliebe sie in Marseille oder sie nähme ein Angebot für eine Stelle irgendwo an. Sie hätte Lust, in einem großen Architekturbüro zu arbeiten, in London oder New York. Wir werden sehen, sagte ich. Vielleicht tut es uns ja ganz gut, eine Weile getrennt zu sein, sagte Sonja, wenn wir im Frühling noch zusammen sind, umso besser.
Sonja schrieb mir jede Woche, so regelmäßig, dass es eher mit einem Vorsatz zu geschehen schien denn aus einem Bedürfnis. Sie schrieb, es gehe ihr gut, und fragte, wann ich sie besuchen käme. Ich schrieb zurück, ich hätte viel zu tun und könne nicht so leicht weg aus München. Vielleicht über die Feiertage. Dann sei sie in Starnberg bei ihren Eltern, antwortete sie. Ich hatte den Eindruck, es sei ihr gar nicht unrecht, eine Beziehung auf Distanz zu führen. So konnte sie sich die anderen Männer vom Leib halten und sich trotzdem ganz der Arbeit widmen. Sie schrieb, ihr Chef sei ein Genie. Sie benutzte immer nur seinen Vornamen, als seien sie alte Freunde, und schon nach kurzer Zeit schrieb sie, wir und uns. Wir bauen einen Kinderhort. Wir machen bei einem Wettbewerb mit für ein Kongresszentrum. Unsere Architektur soll alle Sinne des Menschen ansprechen, sie will gesehen, berührt, gerochen und gespürt werden. Ich widerstand der Versuchung, sie zu fragen, was das Geschwätz sollte. Vermutlich war ich nur neidisch. Das Büro, in dem ich mein Praktikum machte, war spezialisiert auf phantasielose Bürogebäude. Die Firmenphilosophie war, der Kunde ist König, oder auch, Geld stinkt nicht. In einem ihrer Briefe zitierte Sonja Hermann Hesse. Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden. Ich stellte mir vor, wie sie mit ihrem Albert am Strand entlangspazierte, wie der Mistral ihr Haar zerzauste und wie sie alle Sinne ihres Chefs ansprach. Sie schaute ihn mit bewundernden Blicken an, und er zitierte Hermann Hesse. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Ich gefiel mir in meiner Eifersucht, obwohl ich sicher war, dass Sonja mir treu war, dass sie es ernst meinte mit unserer Beziehung, vielleicht ernster als ich. Wenn wir gelegentlich telefonierten, schmiedeten wir Pläne, sprachen über die Gründung eines eigenen Büros, später, wenn wir Erfahrungen gesammelt hätten. Aber ich sammelte keine Erfahrungen, meine Arbeit bestand vor allem darin, Modelle zu bauen und Werkplanung zu machen. Monatelang saß ich in einem fensterlosen Büro und zeichnete immer gleiche Treppenhäuser. Obwohl ich viel Arbeit hatte, langweilte ich mich. Die Langeweile hatte einen verführerischen Reiz. Insgeheim genoss ich es, keine Verantwortung zu haben und kein Ziel. Ich schaute mich nicht nach einer besseren Stelle um, bestellte keine Wettbewerbsunterlagen und las keine Fachzeitschriften. Stattdessen vergrub ich mich in meiner freien Zeit in Büchern toter Autoren. Ich las Edgar Allan Poe und Eichendorff, Mircea Eliade und Giambattista Vico, und es war mir,
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