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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Farben, wie man sie an Bahnhofskiosken kaufen kann. Auf dem Boden stapelten sich Frauenromane, christliche Ratgeber und polnische Illustrierte. Dazwischen lagen unachtsam hingeworfene Kleider und Strümpfe, ausgeschnittene Kochrezepte, billiger Modeschmuck. Die Ärmlichkeit, die Unordnung und die Abwesenheit jeglicher Ästhetik schienen mein Verlangen noch zu verstärken. Nichts war da, was mich hätte hemmen können, was mich an mein Leben erinnert hätte, an meine Welt. Es war, als sei ich in diesem Raum ein Anderer, als würde ich zu einem Gegenstand in Iwonas planloser Sammlung zugleich gehüteter und vernachlässigter Dinge.
    Ich tauchte auf, wann es mir passte und wann ich konnte. Iwona war jeden Abend da, sie schien nichts anderes zu tun zu haben, als auf mich zu warten. Meistens lief der Fernseher, und wenn sie ihn abschalten wollte, sagte ich, nein, und wir zogen uns aus und küssten und umarmten uns zum Soundtrack irgendwelcher kitschiger Filme. Meist war ich wieder weg, bevor die Filme zu Ende waren. Ich blieb nie über Nacht bei ihr, aus Angst, Tanja oder Birgit könnten Sonja davon erzählen. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, neben Iwona aufzuwachen, ich ertrug ihre Gesellschaft nur, wenn ich erregt war.
    Mein drittes oder viertes Treffen mit Iwona war am Tag nach dem Mauerfall. Ich hatte die halbe Nacht vor dem Fernseher gesessen und war müde, als ich am Abend zu ihr ging. Ich fragte sie, was sie von der Angelegenheit halte. Sie zuckte mit den Schultern. Ich sagte, ich sei mir nicht sicher, ob ich eine Wiedervereinigung sinnvoll fände, und zählte Vor- und Nachteile auf, als sei ich es, der über die Zukunft Deutschlands zu entscheiden habe. Iwona hörte mit teilnahmslosem Gesicht zu, als gehe sie das alles nichts an. Sie schien in einer eigenen Welt zu leben, ohne wahrzunehmen, was um sie herum geschah.
    Es fiel mir auf, dass Iwona versuchte, sich schönzumachen. Sie fing an, sich zu schminken und zu frisieren und auf ihre Garderobe zu achten. Als ich sagte, ich möge es nicht, wenn sie sich aufputze, hörte sie auf damit. Sie schien es für eine Art Liebesbeweis zu halten, dass ich sie überhaupt wahrnahm, dass ich mich für ihr Aussehen interessierte und es kommentierte. Manchmal zeigte sie mir zwei Kleidungsstücke und fragte, welches findest du schöner? Ich zeigte auf eines, obwohl es mir einerlei war, was sie trug, und dann verschwand sie im Bad, um es anzuziehen, und ich folgte ihr und schaute ihr zu und zog sie, wenn sie nur noch in Unterwäsche war, zurück ins Zimmer und zum Bett. Auch wenn sie zur Toilette ging, folgte ich ihr manchmal, ihr Schamgefühl reizte mich, bis sie es ganz verloren hatte und alles hinnahm, was ich machte, und alles tat, was ich von ihr verlangte. Bis auf das eine.
    Wenn ich manchmal etwas länger blieb, fing Iwona an zu reden. Sie hatte einen unerschöpflichen Vorrat an abstrusen Geschichten, in denen die Jungfrau von Tschenstochau oder sonst ein heiliges Wesen Wunder wirkte im Leben einfacher Leute. Das fing beim verlorenen Schlüsselbund an und endete bei der Erfüllung eines Kinderwunsches oder der Heilung von einer schweren Krankheit. Sie redete hastig und schaute mich dabei nicht an, es war, als spreche sie zu sich selbst, eine endlose Litanei. In diesen Momenten dämmerte es mir, was für ein furchtbar einsamer Mensch sie war. Manchmal sprach sie von ihrem Papst, den sie verehrte und der in ihren Augen auch so etwas wie ein Heiliger war. Wenn ich ihn kritisierte, schwieg sie, um, wenn ich geendet hatte, einfach fortzufahren, wo sie aufgehört hatte. Meine Worte schienen sie gar nicht zu erreichen.
    Unsere Treffen liefen nach dem immer gleichen Muster ab und dauerten selten länger als eine Stunde, manchmal auch nur eine halbe. Iwona war keine raffinierte Liebhaberin, sie hatte keine Erfahrung und keine Phantasie. Wenn sie mich anfasste, war sie entweder zu zögerlich oder zu grob, wenn ich sie berührte, reagierte sie kaum, oder sie spielte mir etwas vor. Was mich nicht von ihr loskommen ließ, war ihre vollkommene Hingabe. Ihre bedingungslose Liebe, so zufällig sie zu sein schien, zog mich unwiderstehlich an und stieß mich, kaum hatte ich mich befriedigt, wieder ab. Dann hatte ich das Bedürfnis, sie zu kränken, als könnte ich mich nur so von ihr befreien.
    Meinst du, der Heilige Vater wäre einverstanden mit dem, was du tust?, fragte ich sie einmal, meinst du, das ist keine Sünde, nur weil wir nicht miteinander schlafen? Ich warf ihr vor,

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