Sieben Phantastische Geschichten
Verhaltenskodex regelte das Verhältnis von Arzt und Patient ebenso wie jeden gesellschaftlichen Verkehr. Kein Arzt sah je seine Patienten unbekleidet, und die Lage von Erkrankungen im Intimbereich wurde vom Patienten immer mittels Diagrammdias angezeigt. Selbst unter Ehepaaren war die teilweise Entblößung des Körpers verhältnismäßig selten, und die Sexualorgane blieben gewöhnlich hinter starken Nebelfiltern verborgen oder wurden scheu durch den Austausch von Zeichentrickdarstellungen angedeutet. Natürlich war ein heimlicher pornographischer Kanal in Betrieb, und Prostituierte beiderlei Geschlechts boten ihre Dienste an, aber selbst die teuersten unter ihnen würden sich kaum in natura zeigen, sondern am Höhepunkt eine Filmaufzeichnung von sich einblenden.
Diese bewunderungswürdigen Konventionen schalteten jede Gefahr einer persönlichen Betroffenheit aus, und diese befreiende Affektlosigkeit erlaubte es denjenigen, die es wollten, das ganze Spektrum sexueller Möglichkeiten auszukosten und ebnete den Weg für den Tag, da alle ohne jedes Schuldgefühl sexuelle Perversität, ja sogar Psychopathologie genießen konnten.
Als ich auf die ungeheure Brust und die Brustwarze mit ihrer kompromißlosen Geometrie starrte, kam ich zu dem Schluß, daß ich mit dieser bis zur Exzentrik offenherzigen Frau am besten zurecht kam, wenn ich jedes Abweichen von der Konvention ignorierte. Nachdem die Infrarotuntersuchung bestätigt hatte, daß der befürchtete Krebsknoten in Wahrheit eine gutartige Geschwulst war, knöpfte sie sich die Bluse zu und sagte:
»Da bin ich aber wirklich erleichtert. Rufen Sie mich an, Herr Doktor, falls Sie einmal eine Massage brauchen. Es wäre mir ein Vergnügen, mich erkenntlich zu zeigen.«
Obwohl noch immer von ihr gefesselt, war ich eben daran, am Abschluß dieser bizarren Konsultation die Rechnungssumme einzugeben, als sich ihr beiläufiges Angebot in meinem Bewußtsein einnistete. Neugierig, sie wiederzusehen, traf ich eine Verabredung für die kommende Woche.
Ohne es zu bemerken, hatte ich bereits begonnen, dieser ungewöhnlichen jungen Frau den Hof zu machen. Am Abend meiner Verabredung vermutete ich halb und halb, daß sie so etwas wie eine Anfängerin im horizontalen Gewerbe war. Als ich jedoch diskret bekleidet auf der Entspannungscouch in meiner Sauna lag und meinen Körper nach Margarets Anweisungen manipulierte, gab es nicht das leiseste Anzeichen von Wollust. Während der Abende, die folgten, entdeckte ich nicht einmal eine Spur von sexuellem Reiz, wiewohl wir zuweilen, wenn wir im Gleichklang die Übungen vollzogen, mehr von unseren Körpern enthüllten als viele Ehepaare. Margaret, erkannte ich, war eine Laune der Natur, einer jener seltenen Menschen ohne Schamgefühl, die kaum die obszönen Wollustgefühle ahnen, die sie in anderen erregen.
Mein Werben trat jetzt in ein förmliches Stadium ein. Wir begannen, zusammen auszugehen – das heißt, wir sahen uns dieselben Filme im Fernsehen an, besuchten dieselben Theater und Konzertsäle, beobachteten, wie dieselben Mahlzeiten in Restaurants zubereitet wurden, alles von der Behaglichkeit unserer jeweiligen Wohnungen aus. Zu dieser Zeit hatte ich wirklich noch keine Ahnung, wo Margaret wohnte, ob sie fünf Kilometer von mir entfernt war oder fünfhundert. Zunächst schüchtern, tauschten wir alte Filme von uns aus, von unserer Kindheit und Schulzeit, unseren Lieblingsurlaubsorten im Ausland.
Sechs Monate später waren wir verheiratet, in einer ver
schwenderischen Zeremonie in der exklusivsten Studiokirche. Über zweihundert Gäste nahmen daran teil, schlossen sich einer riesigen Zusammenschaltung von Fernsehschirmen an, und der Gottesdienst wurde von einem Priester gehalten, der für seine Meisterschaft im Bildschirmsplitting berühmt war. Vorher aufgenommene Filme von Margaret und mir selbst, die getrennt in unseren Wohnzimmern aufgezeichnet worden waren, wurden in das Innere der Kathedrale projiziert und zeigten uns, wie wir Seite an Seite das ungeheure Kirchenschiff hinuntergingen.
Die Hochzeitsreise führte uns nach Venedig. Glückerfüllt teilten wir die Panoramasicht der Menschenmenge auf dem Markusplatz und betrachteten die Tintorettos in der Scuola San Rocco. Unsere Hochzeitsnacht war ein Triumph der Regiekunst. Als wir in unseren Betten lagen (Margaret befand sich in Wahrheit rund fünfzig Kilometer südlich von mir, irgendwo in einem Komplex gewaltiger Hochhäuser), warb ich mit einer Reihe immer wagemutigerer
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