Sieben Phantastische Geschichten
es sich um den Fehler einer Stenotypistin im Personalbüro –, erhielt den Namen ›Hinton‹ und wurde daraufhin mit einem kompletten Satz persönlicher Daten ausgestattet, einer Privatstation mit Pflegeschwestern und Ärzten und allem. Diese Ersatzwelt, diese Verkettung von Fehlern, war so plastisch, daß man, als sie in sich zusammenstürzte und das Fehlen jedweder Substanz hinter dem Schatten aufgedeckt wurde, das verbleibende Vakuum automatisch als Flucht des Patienten interpretierte.« Dr. Mellinger unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung, während Normand, Redpath und Booth zustimmend nickten. Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in seinen Sessel. »Vielleicht, meine Her ren, ist es mein Glück, daß ich mich von den alltäglichen Angelegenheiten in Green Hill fernhalte. Ich betrachtete es keineswegs als ein besonderes Verdienst meinerseits, daß ich allein es war, der genügend Abstand besaß, um in Betracht zu ziehen, welche Implikationen Hintons Verschwinden mit sich brachte, und auf die einzig mögliche Erklärung gekommen bin – nämlich, daß Hinton niemals existiert hat! «
»Eine brillante Schlußfolgerung«, murmelte Redpath.
»Ganz ohne Zweifel«, betete Booth nach.
»Eine tiefe Einsicht«, stimmte Normand ebenfalls zu.
An der Tür war ein scharfes Klopfen zu hören. Stirnrunzelnd ging Dr. Mellinger darüber hinweg und fuhr mit seinem Monolog fort.
»Danke, meine Herren. Ohne Ihre Hilfe hätte diese Hypothese, daß Hinton nichts weiter war als eine Häufung verwaltungstechnischer Fehler, nie bestätigt werden können.«
Wieder klopfte es an der Tür. Atemlos kam eine Krankenschwester herein. »Entschuldigen Sie, Sir. Es tut mir leid, daß ich Sie unterbreche, aber –«
Dr. Mellinger winkte ihre Entschuldigung mit der Hand beiseite. »Macht nichts. Was gibt es denn?«
»Da ist ein Besuch, Dr. Mellinger«, sie machte eine Pause, während der Direktor ungeduldig wartete. »Es ist Mrs. Hinton. Sie will ihren Mann besuchen.«
Einen Augenblick lang waren alle konsterniert. Die drei Männer am Kamin richteten sich auf, ihre Drinks waren vergessen, während Dr. Mellinger stocksteif neben seinem Schreibtisch stand. Es war totenstill im Raum, nur auf dem Gang vor der Tür konnte man das Klicken hochhackiger Schuhe hören.
Aber Dr. Mellinger hatte sich schnell wieder gefaßt. Hoch aufgerichtet und mit einem grimmigen Lächeln für seine Kollegen, sagte er: »Um Mr. Hinton zu besuchen? Unmöglich, Hinton hat nie existiert. Die Frau muß an schweren Wahnvorstellungen leiden; sie benötigt sofortige Behandlung. Bringen Sie sie herein.« Er wandte sich an seine Kollegen. »Meine Herren, wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um ihr zu helfen.«
Minus zwei.
Der Mann im 99. Stock
The Man On The 99th Floor
aus: J. G. Ballard: Der ewige Tag, Suhrkamp 1983
Übersetzung: Michael Walter
Den ganzen Tag hatte Forbis versucht, den 100. Stock zu erreichen. Am Fuß der kurzen Treppe hinter dem Fahrstuhlschacht zusammengekauert, starrte er hilflos zu der eisernen Schwingtür hoch, die aufs Dach führte, und sann auf ein Mittel, wie er sich zu ihr hinaufschleppen könnte. Elf schmale Stufen und dann das leere Flachdach, die hohen Gitter der Selbstmörderbarriere und der freie Himmel. Alle drei Minuten zog oben eine Verkehrsmaschine vorüber und warf einen fließenden Schatten auf die Stufen, die Düsen ertränkten vorübergehend die Panik, die seinen Geist blockierte, und jedesmal unternahm er einen neuen Versuch, die Tür zu erreichen.
Elf Stufen. Er hatte sie tausendmal gezählt in den Stunden, die vergangen waren, seit er das Gebäude heute morgen um zehn Uhr betreten hatte und mit dem Aufzug in den 95. Stock gefahren war. Die anschließenden Etagen hatte er zu Fuß erstiegen – diese Stockwerke waren Attrappen, fensterlose und unbenützte Büros, einzig aufgesetzt, um dem Gebäude das Gepräge eines vollen Jahrhunderts zu verleihen –, dann still am Fuß der letzten Treppe gewartet, dem Aufspulen und Brummen der Fahrstuhlkabel gelauscht und gehofft, sich zu beruhigen. Aber wie immer begann sein Puls zu rasen, binnen zwei, drei Minuten stieg er auf hundertzwanzig. Als er aufstand und nach dem Geländer griff, verklumpte etwas seine Nervenzentren, Caissons senkten sich auf den Grund seines Gehirns, nagelten ihn auf dem Boden fest wie einen bleiernen Koloß.
Forbis befingerte die Gummileisten der untersten Stufe und sah auf seine Armbanduhr. Sechzehn Uhr zwanzig. Wenn
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