Sieben Phantastische Geschichten
er nicht achtgab, würde jemand die Treppen zum Dach hochsteigen und ihn hier finden – es gab bereits ein halbes Dutzend Gebäude in der Stadt, wo er persona non grata war, wo man den Liftboys eingeschärft hatte, bei seinem Auftauchen die Hausdetektive zu verständigen. Und so viele Gebäude mit hundert Stockwerken gab es nun auch wieder nicht. Dies war ein Teil seiner Obsession. Es mußten genau einhundert sein.
Wieso? Zurückgelehnt an die Wand, schaffte es Forbis, sich diese Frage zu stellen. Was für eine Rolle spielte er da, wenn er die Stadt nach hundertstöckigen Wolkenkratzern abgraste und dann dieses zwanghafte Ritual vollzog, das beständig damit endete, daß der letzte Gipfel unbezwungen blieb? Vielleicht war es so eine Art abstraktes Duell zwischen ihm und den Architekten dieser monströsen Bauwerke (er entsann sich trübe eines Hilfsarbeiterjobs unter den Straßen der Stadt – vielleicht rebellierte er und behauptete sich, der Prototyp des urbanen Ameisen-Menschen, der versucht, die Totemtürme der Megalopolis umzukippen?).
Eine Verkehrsmaschine trimmte sich auf den Gleitweg und setzte über der Stadt zum Landeanflug an, ihre sechs gewaltigen Düsen tosten. Als der Lärm über ihm vorbeihämmerte, zog sich Forbis auf die Beine und senkte den Kopf, ließ die Geräusche widerstandslos in seinen Geist dringen und seine blockierten Rückkoppelungen lösen. Er hob den rechten Fuß, setzte ihn auf die erste Stufe, packte das Geländer und zog sich zwei Stufen hoch.
Sein linkes Bein schwebte frei in der Luft. Erleichterung durchströmte ihn. Endlich würde er die Tür erreichen! Er nahm die nächste Stufe, hob seinen Fuß zur vierten, nur noch sieben bis ganz oben, und merkte dann, daß seine linke Hand unten am Geländer festklebte. Er zerrte wütend an ihr, aber die Finger waren zusammengeklammert wie Stahlbänder, der Daumennagel grub sich schmerzhaft in seine Zeigefingerkuppe.
Das Flugzeug war schon verschwunden, da versuchte er noch immer, seine Hand aufzubiegen.
Eine halbe Stunde später, als das Tageslicht verblaßte, setzte er sich auf die unterste Stufe, zog sich mit der freien Rechten einen Schuh aus und ließ ihn durchs Geländer in den Fahrstuhlschacht fallen.
Vansittart verstaute die Spritze in seinem Köfferchen und betrachtete Forbis nachdenklich.
»Sie können von Glück sagen, daß Sie keinen umgebracht haben«, sagte er. »Die Fahrstuhlkabine befand sich dreißig Etagen tiefer, Ihr Schuh durchschlug das Dach wie eine Bombe.«
Forbis zuckte unbestimmt die Achseln, entspannte sich auf der Couch. In der Psychologischen Fakultät war es beinahe still, die letzten Lichter auf dem Korridor verloschen, als das Personal die Medizinische Hochschule verließ und nach Hause ging. »Tut mir leid, aber es gab keine andere Möglichkeit, um mich bemerkbar zu machen. Ich pappte am Treppengeländer wie eine verendende Schnekke. Wie haben Sie den Manager besänftigt?«
Vansittart saß auf der Kante seines Schreibtisches, drehte die Lampe weg.
»War gar nicht einfach. Zum Glück arbeitete Professor Bauer noch in seinem Büro und gab mir dann telefonisch Rückendeckung. Doch heute in einer Woche geht er in Pension. Nächstes Mal kann ich vielleicht nicht mehr so auftrumpfen. Ich glaube, wir müssen direkter vorgehen. Die Polizei wird weniger nachsichtig mit Ihnen verfahren.«
»Weiß ich. Davor hab’ ich auch Angst. Aber wenn ich es nicht weiter versuchen kann, brennen in meinem Gehirn die Sicherungen durch. Haben Sie denn überhaupt keine Idee, was es sein könnte?«
Vansittart murmelte etwas Unverbindliches. Die Ereignisse waren nach genau demselben Muster abgelaufen wie bei den drei früheren Gelegenheiten. Wieder war der Versuch, das offene Dach zu erreichen, fehlgeschlagen, und wieder gab es keine Erklärung für Forbis’ Zwangshandlung. Vor gerade einem Monat hatte Vansittart ihn zum ersten Mal gesehen, als er auf dem Beobachtungsdach des neuen Verwaltungsgebäudes der Medizinischen Hochschule ziellos herumspazierte. Wie er aufs Dach gelangt war, hatte Vansittart nie herausgefunden. Glücklicherweise hatte einer der Pförtner bei ihm angerufen, daß sich auf dem Dach ein Mann verdächtig benähme, und Vansittart war gerade noch vor dem Selbstmordversuch bei ihm gewesen.
Danach sah es wenigstens aus. Vansittart prüfte die sanften, grauen Gesichtszüge des kleinen Mannes, seine schmalen Schultern und dünnen Hände. Anonymität umgab ihn. Er war der unbedeutende Stadtmensch, so nahe der
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