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Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters

Titel: Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ächzten die alten Holzböden, und manche Türrahmen waren so niedrig, dass ein Erwachsener sich bücken musste, wenn er hindurchgehen wollte.
    Bisher hatte Kyra die knirschenden Treppen und Böden immer toll gefunden. Irgendwie klang es spannend, wenn jemand darüber ging und das Knarren der Bohlen sein Näherkommen verriet. Das war ein Geräusch von Abenteuer, fand Kyra, von geheimen Missionen, von Herzklopfen, Gänsehaut und kaltem Schweiß. Natürlich nicht wirklich – wer würde schon in einem Haus wohnen wollen, das einem Angst einjagte? –, aber es war ungemein aufregend, sich all das vorzustellen.
    Ja, Kyra war immer der Meinung gewesen, dies sei in der Tat ein großartiges Haus.
    Bis heute.
    Jetzt, da sie sich zum ersten Mal heimlich die Treppen hinaufstahl und lautlos auf ihr Zimmer gehen wollte, fluchte sie im Stillen vor sich hin. Jeder Schritt war deutlich zu hören, und Tante Kassandra musste längst aufgewacht sein. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe sie ihre Schlafzimmertür aufreißen und Kyras Namen rufen würde.
    Aber auch als Kyra den oberen Treppenabsatz erreichte, wurde noch immer keine Tür aufgerissen. Und niemand rief ihren Namen.
    Der Grund dafür war einfach: Tante Kassandra erwartete sie bereits.
    Als Kyra den Dachboden betrat, blickte ihre Tante von einem merkwürdigen Buch auf, in dem sie bis gerade gelesen hatte. Sie saß im Schneidersitz auf Kyras Bett und trug eines ihrer Nachthemden aus ungefärbtem Leinen; eigentlich unterschied es sich kaum von den Kleidern, die sie tagsüber trug.
    Das Buch in ihren Händen war ein großer, schwerer Band, in dunkles Leder gebunden und mit Seiten, so gelb wie Butterblumen. Sie klappte es zu, als Kyra eintrat, und legte es beiseite. Die Matratze bekam dort, wo es lag, eine ziemliche Delle, so schwer war es.
    Kyra seufzte. »Ja, gut, ich gestehe alles«, sagte sie und hob die Hände wie ein Juwelendieb, der auf frischer Tat ertappt worden ist. »Ich bekenne mich schuldig in allen Punkten der Anklage.«
    Den Satz hatte sie im Fernsehen gehört, und er brachte Tante Kassandra zum Lächeln. Immerhin.
    »Komm mal her«, sagte ihre Tante. »Setz dich zu mir.«
    Kyra folgte der Aufforderung, ohne zu zögern. Tante Kassandra würde sie nicht anbrüllen, das hatte sie noch nie getan. Und irgendwie wirkte sie auch viel eher traurig als wütend.
    Kyra musste nicht lange überlegen, was sie sagen würde. Sie blieb bei der Wahrheit.
    »Es sind drei«, sagte sie. »Mindestens. Wir haben sie vor der Kirche gesehen. Sie sind hineingegangen.«
    Tante Kassandra nickte sorgenvoll. »Das habe ich befürchtet.«
    »Warum sagst du mir nicht, wer diese Frauen sind?«
    »Ich kenne dich, Kyra. Selbst wenn ich dir alles erzählen würde – alles Schreckliche, alles, was sogar mir die Beine flau werden lässt –, würde es dich nicht davon abhalten, weiter dort draußen herumzulaufen. Es steckt zu viel von deiner Mutter in dir. Deine Neugier hast du von ihr geerbt. Und ich fürchte, auch die Unerschrockenheit.«
    Unerschrocken? Nein, so fühlte Kyra sich wahrhaftig nicht. Vielleicht hatte sie es heute Abend nicht so deutlich gezeigt, aber auch sie hatte auf dem dunklen Friedhof furchtbare Angst gehabt. Möglicherweise war sie nur geschickter als andere, ihre Furcht zu verbergen.
    »Ich hab mich vorhin ganz schön gefürchtet«, gestand sie.
    »Mit gutem Recht«, entgegnete ihre Tante. »Wer sich überhaupt nicht fürchtet, der macht Fehler. Fehler, durch die er vielleicht sein Leben aufs Spiel setzt. Eine gehörige Portion Angst bewahrt einen vor Missgeschicken. Aber mit ›unerschrocken‹ meinte ich etwas anderes. Irgendwann, vielleicht wenn du groß bist, wirst du das verstehen.«
    »Verrätst du mir nun, was es mit diesen Frauen auf sich hat?« Kyra streckte eine Hand aus und strich ehrfürchtig mit den Fingern über den Ledereinband des Buches. Er war so rau und hart wie Baumrinde. »Sie sind Hexen, oder?«
    Tante Kassandra nickte. »So was in der Art. Ja, man könnte sie wohl Hexen nennen, auch wenn sie selbst das vielleicht nicht gerne hören.«
    »Was wollen sie hier bei uns?«
    Tante Kassandra seufzte. »Giebelstein ist ein sehr alter Ort, beinahe zweitausend Jahre alt. Hier lebten schon Menschen, als die Römer ihre Straßen durch die Wälder schlugen und ihre Schwerter mit denen der Germanen kreuzten. Vieles ist hier geschehen, viel Unrecht, und großes Leid ist auf diesem Boden angerichtet worden. Hast du schon einmal von der Hexenverfolgung gehört? Damals,

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