Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
und keinen, der es überlebte. Ganz im Gegenteil: Zum Dank für seine Verdienste wurde Abakus nach seinem Tod vom Papst heilig gesprochen, und man erbaute für ihn hier in Giebelstein eine Kirche. Und nun darfst du raten, was sich wohl unter dieser Kirche befindet?«
Kyra überlegte, und dann wurde ihr plötzlich ganz schlecht. »Etwa Abakus’ Grab ?«
»So ist es! Abakus wurde in einer Gruft unter der Giebelsteiner Kirche beigesetzt, und dort steht sein Sarkophag auch heute noch.«
Kyra verschlug es einen Moment lang die Sprache.
»Tante Kassandra?«, fragte sie schließlich. »Wie mächtig sind die Hexen des Arkanums? Glaubst du, sie könnten –«
»Einen Toten wieder auferstehen lassen?«, führte ihre Tante die Frage zu Ende. »Ja, mein Kind, ich fürchte, sie könnten es versuchen.«
Kyras Gesicht war so bleich geworden wie frisch geschlagene Sahne. »Dann sind die Hexen also hier, um Abakus wieder zum Leben zu erwecken!«
Tante Kassandra legte ihre Arme um Kyra und drückte sie an sich. »Verstehst du jetzt, warum ich solche Angst um euch habe?«
Kyra holte tief Luft. »Mann-o-Mann, das ist eine ziemlich verflixte Angelegenheit, was?« Sie löste sich vorsichtig von ihrer Tante und zeigte auf das Buch, das neben ihr auf dem Bett lag.
»Was ist damit? Ist das so was wie ein Zauberbuch?«
Tante Kassandra lächelte. »Nicht ganz.« Sie hob das Buch auf Kyras Schoß. Die Kanten waren so lang wie ihre Unterarme, und es war mindestens so dick wie Kyras Oberschenkel.
»Dieses Buch«, sagte Tante Kassandra, »ist ein Verzeichnis aller Hexen, die dem Arkanum angehören. Hier drin stehen die Namen aller Mitglieder, außerdem die Länder, in denen sie leben.« Sie schlug das Buch auf einer der ersten Seiten auf. Die Schrift war winzig klein, und auf jeder Seite mussten mindestens hundert Namen stehen!
»Wie viele Seiten hat das Buch?«, fragte Kyra stockend. »Ein paar hundert?«
»Fast zweitausend.«
Aber das machte ja mindestens zweihunderttausend Hexen in der ganzen Welt!
Tante Kassandra seufzte, so, als hätte sie Kyras Gedanken gelesen. »Hier drin stehen nur alle Hexen Europas. Jene, die in Afrika leben, sind nicht erfasst, auch nicht die in Asien und Amerika und Australien. Insgesamt hat das Arkanum heutzutage bestimmt mehr als eine Million Mitglieder. Alles Hexen. Alle gemeingefährlich und durch und durch verdorben.«
»Woher hast du das Buch?«, fragte Kyra.
Tante Kassandra zögerte. »Sagen wir, ich hab’s geerbt.«
»Geerbt?«
»Irgendwann werde ich dir alles erzählen. Aber nicht jetzt. Für heute hattest du wohl genug Aufregung, oder?« Sie legte das Buch auf den Boden neben dem Bett. »Versuch jetzt zu schlafen. Morgen ist zwar Sonntag, aber wie ich dich kenne, wirst du früh aufstehen wollen.«
»Tante Kassandra?«, fragte Kyra, als ihre Tante schon an der Tür stand.
»Ja?«
»Hilft das Buch einem irgendwie gegen die Hexen?«
Ihre Tante legte den Kopf schräg, als überlegte sie, wie viel sie Kyra verraten sollte. »Wer den Namen einer Hexe kennt, der hat Macht über sie. Das war schon immer so. Aber wie willst du herausfinden, welche von den zweihunderttausend jene drei sind, die nach Giebelstein gekommen sind? Nein, Kyra, ich fürchte, das ist hoffnungslos.« Sie trat ins Treppenhaus, rief »Gute Nacht« und zog die Tür hinter sich zu.
Kyra ließ sich zurück aufs Bett fallen. Sie dachte über das nach, was ihre Tante erzählt hatte. Neue, fantastische Dinge. Beängstigende Dinge.
Sie beugte sich über die Bettkante und hob mit beiden Armen das Buch vom Boden. Es war so schwer, als hätte ein Bildhauer den Umschlag aus Stein gemeißelt.
Kyra legte es vor sich auf die Decke und schlug es auf. Alle Seiten schienen gleichermaßen eng beschrieben zu sein. Im fahlen Mondlicht, das durch eines der Dachfenster auf ihr Bett fiel, sah es aus, als bewegten sich die Buchstaben über das vergilbte Papier wie Leichenkäfer auf den Gebeinen eines Toten.
Die Namen waren nicht alphabetisch angeordnet. Vielmehr hatte man sie nach dem Zeitpunkt des Beitritts zur Hexengemeinschaft eingetragen. Hinter jedem Namen stand eine lateinische Jahreszahl, und Kyra musste erst nachdenken, ehe sie die Buchstaben in arabische Zahlen umsetzen konnte. Demnach stammte der frühste Eintrag aus dem Jahre 999 nach Christus.
Kyra wollte die hinterste Seite aufschlagen, um nachzusehen, wann das jüngste Mitglied beigetreten war. Dabei stellte sie enttäuscht fest, dass die letzten Seiten aufeinander klebten.
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