Sieben Siegel 01 - Die Rückkehr des Hexenmeisters
Etwa hundert oder zweihundert Blätter waren fest zusammengeheftet. Die Oberste dieser Seiten war nicht wie alle vorhergehenden mit engen Namenkolonnen beschriftet – stattdessen standen nur sechs Worte darauf, in einer fremden Sprache, wahrscheinlich Latein:
Mater Tenebrarum Mater Suspiriorum Mater Lacrimarum
Kyra hatte keine Ahnung, was diese Namen bedeuteten – falls es überhaupt Namen waren. Gedankenverloren fuhr sie mit dem Finger über das fleckige Papier. Verwundert stellte sie fest, dass sich das Blatt nach innen durchdrücken ließ, so, als gäbe es darunter keinen Widerstand.
Da begriff sie.
Die zusammengeklebten Seiten bildeten ein Geheimfach!
Von außen sah es aus wie gewöhnliche Buchseiten, aber tatsächlich waren nur die Ränder aus Papier. In der Mitte klaffte eine Höhlung, die durch das obere Blatt mit den lateinischen Worten versiegelt war.
Seltsam, dass Tante Kassandra das nicht bemerkt hatte. Und wenn doch, warum hatte sie dann das Blatt nicht zerrissen und nachgesehen, was sich in dem Geheimfach befand?
Kyra überlegte nur wenige Augenblicke. Dann holte sie aus und stach mit dem Zeigefinger durch das Papier.
Zumindest versuchte sie es.
Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen beulte sich das vergilbte Papier nur ein, fast so, als wäre es aus Gummi, wurde aber von ihrem Fingernagel nicht einmal angeritzt.
Kyra versuchte es noch einmal. Wieder erfolglos.
So ein Mist! Das durfte doch nicht wahr sein! Sie wollte es mit drei Hexen aufnehmen und konnte nicht einmal ein läppisches Blatt Papier zerreißen?
Dann aber dämmerte ihr, dass die Buchseite vielleicht gar nicht aus gewöhnlichem Papier bestand. Was, wenn Magie im Spiel war? Immerhin war es ein Hexenbuch, noch dazu eines, das offenbar dem größten Hexenbund aller Zeiten gehört hatte. Kein Wunder, dass ein einfaches Mädchen wie sie an seinen Rätseln scheitern musste.
Kyra sprang vom Bett und holte von ihrem Schreibtisch eine Schere. Eigentlich war es nur ein lahmer Versuch, und sie ahnte bereits, wie er ausgehen würde.
Das Papier hielt auch den Stahlspitzen der Schere stand. Kein Kratzer, kein noch so kleines Loch.
Nun gut, dann eben nicht! Wütend schlug sie das Buch zu und legte es zurück auf den Boden. Sie würde morgen früh Tante Kassandra fragen, was es mit dem Geheimfach auf sich hatte. Kyra würde eine Antwort verlangen – wenn es sein musste, würde sie die Luft anhalten, bis ihr Gesicht grün und blau und violett wurde …
Sie wollte endlich die ganze Wahrheit erfahren.
Chrysostomus Guldenmund
Als Kyra am Morgen aufstand, war Tante Kassandra verschwunden. Sie war nicht in ihrem Schlafzimmer, nicht in der Küche und auch nicht in dem Raum, in dem sie all ihre Bücher aufbewahrte. Das Hinterzimmer des Geschäfts – Kyra nannte es immer nur das Laboratorium – war verlassen und die Ladentür von innen verriegelt.
Normalerweise, wenn Tante Kassandra fortging, ohne Kyra Bescheid sagen zu können, hängte sie einen Zettel an die Magnetpinnwand in der Küche. Aber auch dort gab es keinen Hinweis.
Am erstaunlichsten von allem war, dass Tante Kassandras Schlüsselbund auf dem Kleiderhaufen im Schlafzimmer lag. Sie konnte das Haus also gar nicht verlassen haben, sonst wäre die Ladentür nicht verschlossen gewesen. Und auch die Hintertür war zu, der Schlüssel steckte auf der Innenseite.
Entweder, sie war durch eines der Fenster gestiegen – was in Anbetracht der Tatsache, dass Tante Kassandra eine Erwachsene war, doch eher unwahrscheinlich zu sein schien –, oder aber, sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Kyra schauderte. Seit gestern Abend hatten solche Gedanken für sie eine ganz neue Bedeutung bekommen. Hexen lösten andere Menschen in Luft auf. Ja, Hexen konnten so etwas ganz bestimmt!
Noch einmal streifte sie durchs ganze Haus, blickte in jede Ecke, unter jedes Bett, in jeden Schrank. Vergeblich. Keine Spur von Tante Kassandra. Nirgendwo eine handgeschriebene Nachricht.
Kyras Bauch hatte sich zu einem Eisklumpen zusammengezogen. Ihr war übel, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Sie schloss die Ladentür auf, trat nach draußen und sperrte hinter sich wieder ab. Eine Menge Leute kamen durchs Stadttor herein und gingen die Hauptstraße hinunter. Wahrscheinlich kamen sie von der Sonntagsmesse in Sankt Abakus.
Kyra blickte auf ihre Uhr. Erst halb elf. Die Messe hätte eigentlich eben erst anfangen müssen.
Sie lief hinüber zur anderen Straßenseite, wo Herr
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