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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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eine Nebelwand – dahinter war die Sicht vollkommen klar. Der Nebel zerfaserte nicht oder löste sich allmählich auf. Nein, er endete abrupt wie mit einem Messer abgeschnitten. Erst in einer Entfernung von etwa zweihundert Metern wuchs er wieder wie eine schwarze Wand empor. Es war, als hätten sie eine Blase innerhalb des Nebels und der Dunkelheit betreten. Eine Blase, die die komplette Kieselwiese und einen Teil des Bahndamms umschloss.
    Lisa kam sich vor wie eine Figur in einer riesenhaften Schneekugel. Warte nur ab, dachte sie sarkastisch, gleich wird uns jemand schütteln, und dann regnet es Sterne vom Himmel.
    Sterne?
    Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken, sie hatte aber keine Zeit, den Gedanken weiterzuverfolgen. Der Anblick, der sich ihnen bot, beschäftigte sie vollauf.
    Die Kieselwiese war kaum wieder zu erkennen. Zum einen war sie voller Menschen – Lisa schätzte, dass sich mindestens hundert Jugendliche eingefunden hatten, zwischendrin auch ein paar Erwachsene. Zum anderen hatte man vier Scheinwerfer aufgestellt, an jeder Ecke der Wiese einen – schwarze Stangen, auf deren Spitzen derart grelle Lichtkugeln schienen, dass die Form der eigentlichen Lampengehäuse nicht mehr zu erkennen war. Von ihnen wurde das Gelände taghell erleuchtet, so als hätten die Besucher die Nacht draußen im Nebel zurückgelassen.
    Unwillkürlich hatte Lisa das Gefühl, sich nicht länger im Freien zu befinden; tatsächlich machte das Ganze den Eindruck eines hohen Raumes, dessen Wände aus Nebelschwaden geformt waren.
    Hoch oben auf dem Bahndamm, an der gegenüberliegenden Seite der Nebelblase, thronten die drei Waggons, schwarz und schillernd, als hätte man sie mit Öl bestrichen.
    Die Waggons aus den Wäldern.
    Aus Wäldern, in denen angeblich Riesen hausten, die ganze Schienenstränge verwüsteten.
    Lisa kam ein Gedanke, und ehe sie sich versah, hatte sie ihn laut ausgesprochen. »Wenn die Gleise tiefer im Wald wirklich zerstört sind, egal, ob nun von Riesen oder einer Fliegerbombe, wie konnten dann die Waggons von der Sternwarte hierher fahren? Falls sie überhaupt von dort gekommen sind.«
    Chris löste seinen Blick fast ein wenig widerwillig vom Spektakel auf der Kieselwiese. »Wer immer solche Wagen baut, der kann vermutlich auch ein paar kaputte Schienen reparieren oder –«, er schluckte, »– sie einfach mit demselben Zeug überbrücken, aus dem auch die Waggons bestehen.« Chris senkte seine Stimme.
    »Vielleicht hat er das Loch in den Gleisen einfach zuwachsen lassen.«
    Lisa sah, dass seine eigenen Worte ihn schaudern ließen.
    »Schau mal, dahinten!«
    Chris’ Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand. An der Schräge des Bahndamms standen drei Gestalten in dunklen Overalls und blickten über die Menge. Jetzt entdeckte sie drei weitere an der Ostseite der Wiese, und noch einmal drei im Westen. Es schien so, als bewachten sie die Grenzen der sonderbaren Nebelblase.
    Alle neun hielten in ihren Händen dicke Bündel aus Fäden, an deren Enden riesige Sträuße aus schwarzen Luftballons schwebten. Die dunklen Kugeln wippten gasgefüllt über ihren Köpfen und tanzten unmerklich auf und ab.
    Die Jugendlichen standen in Gruppen beieinander, unterhielten sich, lachten und fieberten gespannt dem Beginn der Show entgegen. Falls irgendwer sich über die ungewöhnlichen Waggons und die neun Gestalten wunderte, so tat er sie vermutlich als Teil der Schattenshow ab.
    »Warum tragen sie Masken vor den Gesichtern?«, fragte Lisa leise. Tatsächlich sah es aus, als hätten sich die neun Männer schwarze Strumpfmasken über die Köpfe gezogen. Soweit Lisa es aus der Entfernung erkennen konnte, waren ihre Gesichter vollkommen glatt. Keine Augen, keine Münder, keine Nasen oder Ohren. Und kein Haar.
    » Falls es Masken sind«, gab Chris düster zurück.
    Lisa nickte beklommen. »Sie sehen aus, als wäre ihre Kleidung aus demselben Material wie die Waggons.«
    Oder sogar ihre Körper.
    Wesen aus Gestalt gewordenem Schatten. Das hatten sie schon einmal erlebt – damals beim Dornenmann. Und doch war es heute ganz anders. Massiver. Greifbarer. Gefährlicher.
    Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Die Unterhaltungen brachen hier und dort ab. Lisa schaute nach vorn und erkannte, dass sich im mittleren der drei Waggons eine Öffnung aufgetan hatte. Sie war annähernd oval, aber ihre Ränder schienen sich sanft zu bewegen wie die Lippen eines Fischmauls. Es konnte keine optische Täuschung aufgrund des Nebels sein, denn

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