Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
zwischen Lisa und den Waggons war kein Nebel mehr.
Eine weitere Gestalt erschien in der Öffnung. Sie sah anders aus als die Übrigen: Der Mann hatte ein Gesicht. Ein hageres, bleiches Gesicht, fast wie das eines Toten. Er trug einen schwarzen Frack wie ein Zirkusdirektor, und auf seinem Kopf saß ein schwarzer Zylinder. Er hielt einen Stock aus Ebenholz mit silbernem Knauf in der Hand.
Lisa und Chris lehnten ihre Fahrräder gegen einen Zaunpfosten, ohne den Mann im Waggon aus den Augen zu lassen. Er blickte mit zufriedener Miene über die Menge, schenkte den beiden aber kein besonderes Augenmerk. Dann nickte er dreimal – einmal direkt zu den drei Gestalten am Fuß des Bahndamms, einmal nach Westen und einmal nach Osten. Sofort setzten sich die neun Schattenmänner in Bewegung und begannen, ihre schwarzen Luftballons an die Besucher zu verteilen.
Lisa kam die Atmosphäre immer fremdartiger, immer unwirklicher vor. Wie durch einen Schleier sah sie das vergnügte Lachen auf den Gesichtern der Mädchen und Jungen, denen die Gestalten Ballonfäden in die Hände drückten; sah, wie die schwarzen Kugeln etwa einen Meter über ihren Köpfen zitterten, obwohl doch nicht der leiseste Windhauch zu spüren war; sah den Mann im Frack lächeln, während um ihn die Ränder der Öffnung waberten wie das Todeszucken schwarzer Quallen an einem Meeresstrand.
»Wir müssen irgendwas tun«, flüsterte Chris. Ein Anflug von Verzweiflung klang aus seiner Stimme.
Lisa wusste, was er meinte. Auch sie beschlich beim Anblick der Menge ein Gefühl tiefer Hilflosigkeit. Was konnten sie schon gegen den Mann im Waggon und seine Diener unternehmen?
Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, stand plötzlich eine der schwarzen Gestalten vor ihr. Stumm hielt sie Lisa einen Ballon entgegen.
»Für … für mich?«, fragte sie benommen.
Der Gesichtslose nickte. Lisa konnte jetzt erkennen, dass die Oberfläche seiner hautengen Kleidung – oder seiner Haut – in der Tat aus dem gleichen Material bestand wie die drei Waggons auf dem Bahndamm. Sein Gesicht wirkte aus der Nähe weniger maskenhaft als vielmehr unvollendet. So als hätte jemand versucht, aus der schwarzen Masse Menschen zu formen und dabei vergessen, ihnen individuelle Züge zu verleihen. Der Kopf der Gestalt war nichts als ein blankes, spiegelglattes Oval. Er erinnerte Lisa ein wenig an die Totenschädel der Gefallenen Engel, denen sie auf einer Insel in der Ägäis begegnet waren. Und doch sahen diese Köpfe hier ganz anders aus, allein schon, weil sich Lisas eigene Züge auf dem glatten Kopf des Schattenmannes spiegelten.
So, als würde er mir mein Gesicht stehlen. Wenn er davongeht, sieht er vielleicht aus wie ich. Und ich wie er!
Aber die Gestalt trat einen Schritt beiseite, um auch Chris einen Ballon zu reichen, und Lisas Spiegelung auf seinem Schädel verblasste. An ihre Stelle trat Chris’ Reflexion. Doch auch diese verschwand, als der Schattenmann seine Runde fortsetzte und auf die nächste Besuchergruppe zuging, die hinter den beiden aus dem Nebel brach. Es waren die vier Jugendlichen, mit denen sie auf dem Weg hierher gesprochen hatten.
»Komm«, sagte Chris gedämpft, »lass uns näher zum Bahndamm gehen. Wir sollten uns den Kerl da oben mal genauer ansehen.«
»Ist das wirklich eine gute Idee?«
Er zuckte nur die Achseln, und Lisa war klar, dass sie nicht einfach umdrehen und sich davonmachen konnten. Immerhin waren sie Siegelträger. Die magischen Male waren ebenso Fluch wie Verpflichtung. Die Menschen auf der Wiese hätten sie vielleicht ausgelacht, wenn sie es laut ausgesprochen hätten, doch eines stand fest: Falls irgendwer die Jungen und Mädchen vor der Schattenshow retten konnte, dann waren es Lisa und Chris. Unglücklicherweise hatten sie nicht die geringste Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten – zumal ihnen die wichtigste Information noch fehlte: Was war es, das der Mann im Frack und seine Kreaturen ihren Opfern antun wollten?
Mit den Ballons in Händen überquerten sie die Wiese. Lisa hatte das Gefühl, dass immer wieder etwas an der Schnur zerrte, die sie in den Fingern hielt.
»Warte mal«, bat sie Chris, als sie etwa drei Viertel ihres Weges zurückgelegt hatten. Sie blieb ganz ruhig stehen und versuchte, ihre Hand mit dem Ballonfaden so still wie möglich zu halten. Sie hatte sich nicht getäuscht. Wieder spürte sie das kaum merkliche Zerren, so als zöge etwas den Ballon hin und her. Und zwar nicht nur nach oben, wie es
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