Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben Stunden im April

Sieben Stunden im April

Titel: Sieben Stunden im April Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Preusker
Vom Netzwerk:
mütterlicherseits entstammt. Heute ist es auch kein Dorf mehr, sondern Vorort einer größeren Stadt mit schicken Neubauvierteln, den unvermeid­lichen Einfamilienhäusern im Toskana-Stil, die der Bank ge­hören, mit Einkaufsstraße und Möbelmarkt auf der ehemals grünen Wiese. Den alten Dorfkern gibt es aber noch. Dort wohnten Tante Anna, Tante Lisbeth, Tante Lina, die Familienhexe, und mein versoffener Großvater nebst Familie.
    Wer mit wem wie und warum verwandt war, hat mich als Kind nicht interessiert, nicht als Jugendliche. Und heute? Heute ist es zu spät für Recherchen.
    Vor Jahren hat mir Tante Anna ein Eichenbuffet vermacht. Aufpoliert begleitete es mich auf meinen diversen Umzügen quer durch die Bundesrepublik, stand in Studentenzimmern, in kleinen Wohnungen, in großen Wohnungen, in gemieteten Häusern. Heute enthält es eine stattliche Sammlung weißen Porzellans, das so gut wie nie benutzt wird, ein paar Tisch­decken, die auf den Weg in den Altkleidersack warten, Weingläser und jede Menge CDs. Schon toll, so ein Buffet, Baujahr circa 1910. Unkaputtbar.
    Aber nun, in meinem neuen Leben, habe ich keinen Platz mehr für ausladende Schränke aus Massivholz, was ausnahmsweise nicht symbolisch gemeint ist. Platz im Sinne von Platz. Platz im Sinne von Wohnraum. Mehr nicht.
    Über Tante Anna weiß ich sehr wenig, eigentlich nichts. Sie soll nett sein, freundlich, umgänglich, was ja schon mal was be­deutet in einer Sippe, die unter anderem den größten Säufer,Schläger und Choleriker hervorgebracht hat, den die Kneipen des kleinen niedersächsischen Dorfes je gesehen haben. Die Lieblings- und Stammkneipe meines allseits denkbar unbeliebten Großvaters hieß übrigens »Zum blauen Affen«. Auf solche Namen muss man erst mal kommen.
    Zurück zu Tante Anna: Sie sei nett und umgänglich. Gläubig auch. Natürlich gläubig. Da, wo meine Wurzeln vielleicht immer noch versuchen zu überleben, sind alle gläubig. Von einem Ehemann oder von Kindern habe ich nie etwas gehört. Ich glaube aber, Annas Mann ist im Feld geblieben. So nannte man das wohl.
    Jahre später. Ich sitze, mittlerweile in meinem neuen Leben, meiner Mutter beim Frühstück gegenüber. Knäckebrot. Gers­terbrot, Käse, Wurst, Marmelade. Eingelegte Gurken und Budapester Salat vom Laden um die Ecke. Ein kläglicher Rest göttlichen Käsesalats. Selbstverständlich für mich.
    Tränen in den Augen meiner Mutter. »Wenn ich bedenke, dass ich fast am Grab meines eigenen Kindes hätte stehen müssen.«
    »Bitte, bitte nicht, Mama. Bitte nicht.«
    »Erzähl mir was, Mama. Erzähl mir was von früher.« Einfach so über den Frühstückstisch geworfene Worte. Von früher erzählen hat früher immer geholfen – bei Halsweh, Fieber, Liebeskummer, schlechten Noten. Erzähl mir doch von früher, Mama.
    »Ich habe mich auf dem Dachboden versteckt, als das mit Tante Anna passierte. Ich bin mit meiner Schwester die Stiege zum Dachboden hochgeklettert, dann haben wir ganz leise die Klappe zugemacht und uns aneinandergeschmiegt. Wir waren keine Mädchen mehr, aber auch noch keine Frauen. Wir hatten Angst. Wir haben uns die Münder zugehalten. Wir hatten solche Angst, dass sie uns auch finden. Dort droben auf dem Dachboden, auf dem es nach getrockneter Mettwurst und Wäsche roch. Diesen Geruch werde ich nie wieder vergessen. Wir haben Tante Anna schreien gehört, als die Soldaten kamen. Das waren Amerikaner. Auch Schwarze. Wir hatten noch nie Schwarze gesehen. Die haben uns auch solche Angst gemacht. Wir kannten das doch alles nicht. Die haben Tante Anna vergewaltigt. Damals hat man gesagt ›geschändet‹. Die haben Tante Anna geschändet und sind dann irgendwann weitergefahren in ihren Jeeps. Ich weiß nicht, wohin. Wir Mädchen haben uns erst Stunden später runtergetraut. Anna hat geweint und wir haben das alles gar nicht richtig verstanden. Wir Mädchen. Anna war dann bei einer offiziellen Stelle, Polizei oder beim Kommandanten. Ich weiß nicht, ob jemand etwas unternommen hat. Wir waren ja die Besiegten. Anna war auch besiegt.«
    »Warum hast du mir das noch nie erzählt, Mama?«
    »Möchtest du noch Kaffee, Kind?«
    »Ja, bitte.«
    Tante Anna wird in den nächsten Tagen neunzig, sagt meine Mutter. Diese gute Seele. So dankbar, dass ihr der Herrgott ein langes Leben beschert. Tante Lina, die Hexe, lebt schon lange nicht mehr. Die kreist noch vorm Himmel. Die kommt auch nicht rein, sagt meine Mutter.
    »Und was sollen wir heute Abend essen?«
    »Wir

Weitere Kostenlose Bücher