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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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gefügig zu machen. Maßnahmen wie diese führten, wie Jenny wusste, innerhalb kürzester Zeit zu Verwirrung. Desorientiertheit. Halluzinationen. Und von dort … Sie schauderte. Von dort geradewegs in den Wahnsinn.
    Jetzt aber sah sie ja!
    Und sie hörte auch.
    Sie hörte ihre Tränen. Das Knistern des Klebebands. Und … Sie lag ganz still. Ja, da war noch etwas anderes. Ein Geräusch, das sie nicht näher zuordnen konnte. Es war jenseits dieser Wände, die sie gefangen hielten und die sie noch immer nicht wirklich erkennen konnte.
    Sie blinzelte die Tränen weg und zwang sich, wieder nach oben zu blicken. In das Rechteck, das noch immer gleißend hell über ihr stand. Und allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Die Ränder des Lichts schienen auf sie niederzusacken, gewannen an Kontur und wurden nach und nach zu einer Umrandung.
    Eine Kiste, dachte sie. Schmal und länglich wie ein Sarg.
    Der Gedanke machte ihr Angst. Aber was immer das für ein Ding war, in dem sie lag, wenigstens war es nach oben hin offen. Zumindest im Augenblick. Sie sah eine Reihe von Streben. Mattsilberne Seitenwände mit eigenartig geriffelter Oberfläche. Gummi. Ein schmutziges Weiß.
    Es war kein Sarg, so viel stand fest. Aber was war es dann?
    Jenny hielt den Atem an und lauschte angestrengt auf das Geräusch, das sie gehört hatte. Das Geräusch außerhalb des Rechtecks.
    Etwas bewegte sich.
    Nein, nicht etwas. JEMAND.
    Sofort schossen neue Fragen durch ihren Kopf: Bedeutete die Anwesenheit einer zweiten Person Hilfe? Rettung? Oder vielleicht doch eher das Ende?
    Sie fühlte, wie ihr Körper zu zittern begann. Aber sie musste ihre Angst besiegen. Der Deckel stand offen. Dahinter war Licht. Das war doch ein gutes Zeichen, oder etwa nicht?
    Vielleicht war all das hier nur ein Scherz. Vielleicht würde gleich ein lachendes Gesicht über ihr auftauchen und ihr erklären, dass … Ja, was?
    »Dass ich gehen kann«, flehte sie stumm. Und obwohl sie die Worte lediglich gedacht hatte, schmerzten ihre Lippen unter dem Plastik auf einmal wie eine riesige klaffende Wunde. Wahrscheinlich war die zarte Haut gesprungen vom Kleber und von der Trockenheit. Von dem brennenden Durst, der sich immer nachdrücklicher in ihr Bewusstsein bohrte. Der Gier nach einem Schluck Wasser.
    Mach schon! Nimm Kontakt auf!
    Sie atmete tief ein und versuchte zu rufen, doch alles, was durch das Klebeband nach außen drang, war ein dumpfes Stöhnen. Allerdings schien es zu genügen, um ihn auf sie aufmerksam zu machen, wer immer er war.
    Sie hörte, wie das Geräusch, das seine Anwesenheit verriet, abrupt abbrach. Und nur Sekunden später hörte sie endlich auch seine Schritte.
    Sie kamen direkt auf sie zu. Langsame, gemessene Schritte ohne jede Eile. Die Schritte eines Menschen, der sich seiner Sache absolut sicher ist.
    Jenny merkte, wie ihre Hoffnung auf Rettung mit jedem Schritt, den er auf sie zumachte, schwand. Ihre Augen fixierten den Rand der Kiste. Den Ausgang. Das Licht.
    Ich will ihn sehen. Wenigstens das. Ich will wissen, wer mir das alles antut. Wer es wagt, mich mitten aus meinem wundervollen Leben zu reißen und hierherzubringen, an diesen gottverlassenen Ort ohne Konturen und Sinn.
    Ich will ihm in die Augen sehen!
    Kaum dass ihre Gedanken den Wunsch formuliert hatten, legte sich auch schon ein Schatten über ihr Gesicht.
    Seltsamerweise reagierte ihr Sehnerv auf die unerwartete Entspannung mit noch mehr Tränen. Verzweifelt versuchte sie, die Bilder scharf zu stellen, die ihre Augen ihr anboten. Sie sah einen dunklen Fleck, dort, wo sein Gesicht sein musste. Der Fleck war umgeben von einer Aureole aus Licht. Fast wie ein Heiligenschein.
    Er sagte kein einziges Wort. Er stand einfach da und blickte mit ruhiger Gelassenheit auf sie herunter.
    Das war der Moment, in dem sie verstand, dass er sie töten würde. Aber sie war entschlossen zu kämpfen. Und sei es allein mit ihrem Verstand. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, dem monumentalen Reflex zu widerstehen, die Augen zuzukneifen. Das Licht stach ihr geradewegs in die Pupillen wie ein glühender Nagel, doch sie hielt stand. Sie ignorierte den Schmerz, die Tränen, die unaufhaltsam aufsteigende Panik. Und dann, nach und nach, wurde sein Gesicht endlich griffiger.
    Sie sah das Glänzen von Augen. Erahnte eine Nase. Lippen. Die Stirn. Und urplötzlich wusste sie auch, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre Pupillen weiteten sich in grenzenlosem Erstaunen.
    Er sah es und nickte. Im

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